Arbeitnehmerrechte Trotz Amazon-Rückschlag: Die Gewerkschaften in den USA sind wieder auf dem Vormarsch

Die Kongressabgeordnete Terri Sewell spricht mit Medienvertretern vor dem Amazon-Lager in Bessemer.
Berlin Wir haben die Schlacht verloren, aber nicht den Krieg. So könnte man die Stimmung bei den Gewerkschaften in den USA beschreiben, nachdem sich eine deutliche Mehrheit der Mitarbeiter am Amazon-Standort in Bessemer im US-Bundesstaat Alabama gegen eine Arbeitnehmervertretung entschieden hatte.
„Eine Niederlage ist eine Niederlage“, sagt Nelson Lichtenstein, der an der University of California in Santa Barbara die Geschichte der Arbeiterbewegung erforscht, „aber die enorme wohlwollende Berichterstattung in den Medien ist mehr als ein moralischer Sieg.“ Sie könne durchaus ein Zeichen dafür sein, dass sich das Blatt in der öffentlichen Meinung in den USA zu Gunsten der Gewerkschaften wende.
Vor allem die Unterstützung der Gewerkschaften durch US-Präsident Biden zeige, dass die alte Arbeiterfrage wieder „auf der sozialen und politischen Agenda“ sei. Biden, der bei seinem Wahlsieg im November auch von den Gewerkschaften unterstützt wurde, hatte die Initiative der Amazon-Arbeiter öffentlich begrüßt: „Meine Regierung wird die gewerkschaftliche Organisierung und das Recht auf Tarifverhandlungen unterstützen. Ich halte dieses Versprechen.“
Die demokratische Mehrheit des Präsidenten im Repräsentantenhaus hat zudem gerade den sogenannten „Pro Act“ verabschiedet, der es Unternehmen wie Amazon verbieten würde, ihre Mitarbeiter in der Gewerkschaftsfrage unter Druck zu setzen.
Die Abstimmung im Senat steht noch aus. Die Chancen stehen eigentlich nicht gut für die Gewerkschaften. Sind doch normalerweise 60 Stimmen notwendig, um den „Pro Act“ ins Gesetzesbuch zu bringen. Biden will jedoch das Reformwerk an sein Infrastrukturprogramm anhängen und durch ein als „Reconciliation“ bekanntes Beilegungsverfahren mit einfacher Mehrheit verabschieden.
Auch für den Online-Giganten ist der Streit noch nicht zu Ende: die hemdsärmeligen Methoden, mit denen das Management in Bessemer gegen die Gewerkschaften Stimmung machte, haben ein juristisches Nachspiel.

Der US-Präsident spricht im East Room des Weißen Hauses. Biden setzt sich für mehr Arbeitnehmerrechte ein.
Mary Kay Henry, Präsidentin der Dienstleistungsgewerkschaft SEIU, forderte die Regierung in Washington auf, große Arbeitgeber wie Amazon und McDonalds an den Verhandlungstisch zu zwingen. „Der Kampf geht weiter.“
Auch deutsche Autobauer in den USA könnten betroffen sein
Ein Comeback der Gewerkschaften in den USA könnte auch die deutschen Autobauer betreffen. Mercedes beschäftigt 4,400 Mitarbeiter im Werk in Tuscaloosa/Alabama, nicht mal eine Autostunde vom Amazon-Standort entfernt. Dort sind die Bemühungen der Gewerkschaften bislang nicht über die Gründung einer Ortsgruppe hinausgekommen.
Auch im VW-Werk in Chattanooga scheiterte erst 2014 und dann fünf Jahre später noch einmal der Versuch, eine Arbeitnehmervertretung zu organisieren, obwohl sich die beiden deutschen Unternehmen bei der Wahl neutral verhielten und die Autobauer traditionell zu den Branchen mit den stärksten Gewerkschaften gehören.
Insgesamt jedoch ist die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder seit Jahren rückläufig: Waren 1983 noch gut 20 Prozent der Beschäftigten in den USA gewerkschaftlich organisiert, sind es heute nur noch knapp elf Prozent. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Nach einer aktuellen Umfrage des Gallup-Instituts befürworten rund zwei Drittel der Amerikaner die Idee einer Gewerkschaft.
Die widersprüchlichen Zahlen zeigen zweierlei: Insbesondere Großunternehmen verfügen in vielen US-Bundesstaaten immer noch über genügend Macht, um Gewerkschaften aus ihren Fabriken fernzuhalten. „Die Arbeitgeber verfügen über ein sehr umfangreiches und wirksames Instrumentarium gewerkschaftsfeindlicher Techniken, einschließlich der Entlassung aktiver Gewerkschaftsmitglieder und der Möglichkeit, ungehindert Propaganda gegen die Gewerkschaften zu betreiben“, berichtet der Gewerkschaftsforscher Lichtenstein.
Andererseits ändert sich gerade das politische Klima in den USA. Der Wahlsieg Bidens ist dafür nur ein Zeichen. „Ich würde gerne glauben, dass Amerika an einem ähnlichen Wendepunkt steht wie vor etwa 120 Jahren, als die Verwüstungen und Exzesse des „Gilded Age“ zu einer progressiven Ära führten“, schreibt Robert Reich, früher Arbeitsminister unter Bill Clinton.
Reich erinnert daran, dass der typische Autobauer bei General Motors in heutigen Dollar gerechnet etwa 35 Dollar pro Stunde verdiente und ein großes Mitspracherecht bei den Arbeitsbedingungen hatte. „Die größten Arbeitgeber von heute sind Amazon und Walmart, die jeweils etwa 15 Dollar pro Stunde zahlen und die Arbeiter wie Vieh behandeln.“
Pandemie verleiht der Gewerkschaftsbewegung Rückenwind
Die Pandemie hat zudem das öffentliche Verständnis für die Arbeiter in den Logistik-Zentren von Amazon verstärkt. Als Amazon-Mitarbeiterin Jennifer Bates vor dem US-Kongress berichtete, dass die Arbeitnehmer in einem Amazon-Lager „ständig beobachtet und überwacht“ würden und den Eindruck hätten, „nur eine weitere Maschine zu sein“, sorgte das für einen öffentlichen Aufschrei.

Der Amazon-Gründer gehört zu den reichsten Menschen der Welt.
Nicht nur, weil Amazon-Chef Jeff Bezos mit einem Privatvermögen von rund 115 Milliarden Dollar einer der reichsten Menschen der Welt ist. Sondern auch, weil der Online-Gigant im Pandemie-Jahr 2020 seinen Umsatz um rund 40 Prozent steigern konnte. Auch in Deutschland, Italien und Frankreich protestieren Mitarbeiter des Bezos-Konzerns immer wieder gegen die ihrer Meinung nach unmenschlichen Arbeitsbedingungen.
Politisch bedeutender ist, dass das Comeback der Gewerkschaften mit der aktuellen Protestbewegung gegen die Diskriminierung von Afroamerikanern in den USA zusammenfällt. Drei Viertel der 6000 Beschäftigten am Amazon-Standort in Alabama sind schwarz. „Die beiden Bewegungen überschneiden sich zunehmend“, sagt der Historiker Lichtenstein.
Und schließlich bekommen gerade Ikonen der Plattformökonomie wie der Online-Händler Amazon politischen Gegenwind. Parteifreunde von Biden wie die linksliberale Senatorin Elizabeth Warren, aber auch ihre eher gemäßigte Kollegin Amy Klobuchar fordern offen die Zerschlagung der Tech-Riesen. „Die Zähmung von Amazon und anderen Unternehmen aus dem Silicon Valley ist zum Gegenstand ernsthafter gesetzgeberischer Diskussionen geworden“, sagt Lichtenstein.
Das liegt auch daran, dass die Marktmacht der Unternehmen gegenüber ihren Mitarbeitern in der sogenannten „Gig-Economy“ noch zugenommen hat. Plattformen wie der Transportservice Uber versuchen ihre Mitarbeiter als „unabhängige Auftragnehmer“ zu behandeln und verwehren ihnen damit in den USA meist Arbeitnehmerrechte wie eine Krankenversicherung, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder Überstundenzuschläge. In Großbritannien musste Uber nach einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofes seinen Fahrern zumindest einige dieser Sozialleistung zuerkennen.
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