Asia Business Insights China-Alternativen wittern ihre Chance – insbesondere Indien

Immer mehr internationale Unternehmen wollen Indien in ihre Lieferketten integrieren.
Bangkok Überfüllte Krankenhäuser, leere Sauerstofftanks und Parkplätze, die notdürftig zu Freiluftkrematorien umgebaut wurden: Noch im Mai gingen die Bilder von Indiens Covid-Katastrophe um die Welt.
Ein halbes Jahr später gibt es ganz neue Eindrücke aus Asiens drittgrößter Volkswirtschaft: Die täglichen Infektionszahlen sind seit dem Rekordhoch um 97 Prozent zurückgegangen, mehr als eine Milliarde Impfdosen wurden verabreicht, und die Wirtschaft wächst so kräftig wie in keinem anderen G20-Land.
Die Regierung in Neu-Delhi sieht sich damit in einer hervorragenden Ausgangslage, um den Subkontinent im Wettbewerb um Investoren als Asiens führende China-Alternative zu positionieren.
„In gewisser Hinsicht ist unsere Wirtschaft jetzt stärker, als sie es vor der Pandemie war“, sagte der Ökonom Sanjeev Sanyal, oberster Wirtschaftsberater im indischen Finanzministerium, auf der Handelsblatt-Veranstaltung Asia Business Insights. Sein Land stehe nicht nur vor ein paar guten Jahren mit zweistelligem Wachstum. „Auch danach werden wir sehr hohe Wachstumsraten aufrechterhalten können – womöglich die höchsten in der Welt.“
Diese Aussichten locken mehr und mehr internationale Unternehmen an, die Indien zunehmend in ihre Lieferketten integrieren – nicht zuletzt auch, um die Abhängigkeit von China zu verringern.
Für das vergangene Fiskaljahr, das im März endete, meldete das 1,4 Milliarden Einwohner große Land ausländische Direktinvestitionen in Rekordhöhe: Sie stiegen trotz Coronakrise um zehn Prozent auf 81,7 Milliarden Dollar. „Es ist für mich sehr ermutigend zu sehen, dass internationale Investoren die Chancen in Indien erkennen“, sagte Surendra Rosha, Asienchef der Bank HSBC.
Indien führt die Wachstumsrangliste wohl auch im nächsten Jahr an
Rosha hob das rasante Wachstum der indischen Start-up-Szene hervor, die in diesem Jahr mehrere Dutzend sogenannte Einhörner hervorbrachte, also Start-ups mit einer Bewertung von mehr als einer Milliarde Dollar. Internationale Risikokapitalgeber hatten sich zuletzt verstärkt Indiens Technologiesektor zugewandt, nachdem eine schärfere Regulierung in China die Aussichten dort eingetrübt hatte.
Als Grund für den Zulauf der Investoren sieht der HSBC-Manager zudem wirtschaftsfreundliche Reformen der indischen Regierung unter Premierminister Narendra Modi wie die Senkung der Unternehmensteuern und geplante Infrastrukturinvestitionen von 1,4 Billionen Dollar in den Jahren 2019 bis 2023.

Nach einer Prognose wird Indien im kommenden Jahr mit einem Plus von 8,5 Prozent Wirtschaftswachstum deutlich vor China liegen.
Die Maßnahmen treiben schon jetzt das Wachstum: Nach Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird Indiens Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 9,5 Prozent wachsen – so schnell wie in keiner anderen großen Volkswirtschaft.
Regierungsberater Sanyal glaubt, dass die Zuwächse sogar noch höher ausfallen werden. Der rasante Anstieg liegt zwar vor allem an dem schwachen Vorjahr, als die Wirtschaft des Landes wegen äußerst strenger Corona-Lockdowns um mehr als sieben Prozent schrumpfte. Doch nach den Prognosen der IWF-Volkswirte wird Indien auch im kommenden Jahr die Wachstumsrangliste anführen – und mit einem Plus von 8,5 Prozent deutlich vor China liegen.
Die hohen Wachstumschancen fallen in den Chefetagen der Konzerne auf: Laut einer im September veröffentlichten Studie des Beratungsunternehmens Deloitte plant fast jedes zweite von 1200 befragten internationalen Unternehmen, Investitionen in Indien auszubauen oder erstmals zu tätigen. Dies geschieht vielfach im Rahmen einer sogenannten „China plus one“-Strategie, nach der sich Unternehmen bereits seit Jahren in Asien ein zweites Standbein neben der Volksrepublik aufbauen.
Delivery Hero legt in Südostasien zu
Ein Profiteur dieser Diversifikationsbemühungen ist auch Vietnam. Das 100 Millionen Einwohner große Land hat zuletzt erhebliche Teile der Lieferketten in der Elektronik- und Modeindustrie angezogen. „Deutsche Unternehmen investieren dort bereits seit Jahren und bauen die Handelsbeziehungen kontinuierlich aus“, sagte Roland Busch, der Vorsitzende des Asien-Pazifik-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft. Das im vergangenen Jahr in Kraft getretene Freihandelsabkommen zwischen der EU und Vietnam treibe diese Entwicklung weiter voran.
Doch die rasante Produktionsverlagerung nach Vietnam hat zuletzt auch für massive Probleme gesorgt: Wegen eines Coronavirus-Ausbruchs mussten in den vergangenen Monaten viele Fabriken schließen oder konnten den Betrieb nur notdürftig aufrechterhalten. Lieferverzögerungen betrafen Konzerne wie Apple, Adidas und Nike – der US-Sportartikelhersteller meldete einen zehn Wochen langen Produktionsausfall.
Auch in anderen Ländern der Region birgt die Pandemie nach wie vor Risiken: Trotz erheblicher Fortschritte in den Impfkampagnen im Vergleich zur ersten Jahreshälfte ist in den meisten Schwellenländern Süd- und Südostasiens weniger als die Hälfte der Bevölkerung vollständig immunisiert. Die Gefahr neuer Ausbrüche bleibt damit bestehen.
Der Dax-Konzern Delivery Hero, der mit seinen Lieferdiensten in der Region in zwölf Märkten von Pakistan bis zu den Philippinen aktiv ist, konnte zuletzt trotz der Unsicherheiten zulegen. Die primär in Asien präsente Marke Foodpanda habe noch vor drei Jahren 2,5 Millionen Bestellungen pro Monat erhalten, sagte Konzernchef Niklas Östberg. Inzwischen seien es 70 Millionen.
Insgesamt steht das Asiengeschäft für fast die Hälfte des Umsatzes. Mit neuen Angeboten wie der schnellen Lieferung von Lebensmitteln und Haushaltswaren will Östberg die Geschäfte in den Metropolen des Kontinents weiter ausbauen. Er zeigte sich optimistisch, dass dies gelingt: „Asien ist aus unserer Sicht eine Region der Chancen.“
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