Atomkraft Streit um die Zukunft der Kernenergie spaltet Europa

Etwa 70 Prozent des französischen Stroms stammen aus der Kernkraft.
Brüssel, Paris Seine Zielmarke hat er fast erreicht. Mehr als 66.000 Unterschriften hat der Europa-Politiker Sven Giegold gesammelt, 75.000 sollen es werden. Mit der virtuellen Petition stemmt sich der Grünen-Politiker dagegen, dass Investitionen in neue Atom- und Gaskraftwerke in Europa künftig als klimafreundlich gelten. Vor einer „fatalen Weichenstellung“ warnt Giegold. Die Chance, sie aufzuhalten, schwindet allerdings – egal wie viele Unterschriften noch dazukommen.
Die Empörung gilt der EU-Taxonomie, einem Regelwerk, das definiert, welche Geschäftstätigkeiten künftig als nachhaltig ausgewiesen werden und welche nicht. Man könnte meinen, dass solche technischen Fragen nur Spezialisten interessieren. Doch das Thema hat höchste politische Bedeutung erlangt.
Was als abseitige Debatte begann, hat das Potenzial, zu einer schweren Belastung des deutsch-französischen Verhältnisses zu werden – und den Neustart der Europa-Politik unter der künftigen Ampelkoalition zu überschatten.
Während in Deutschland Kernkraft als energiepolitisches Tabu gilt, bildet sie für Frankreich das Fundament der wirtschaftlichen Transformation. Mit aller Macht kämpfen die Franzosen dafür, dass Nuklearkraftwerke das Siegel der Klimafreundlichkeit erhalten. Denn sie fürchten, dass die Taxonomie nicht nur zum Richtschur der Kreditvergabe von Banken wird, sondern künftig auch darüber bestimmten könnte, welche Technologien noch EU-rechtskonform staatlich förderbar sind.
Und die Franzosen scheinen Erfolg zu haben. In einem internen Kommissionspapier, das dem Handelsblatt vorliegt, wird Kernkraft als nachhaltiges Investment klassifiziert. Anfang Dezember, womöglich noch vor dem Amtsantritt der neuen Bundesregierung, dürfte die EU-Behörde ihre Entscheidung öffentlich machen. Dann wäre die Taxonomie kaum noch zu stoppen.
Atomkraft-Befürworter sind in der Mehrheit
Die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat den Kampf praktisch verloren gegeben. Der Vorschlag der Kommission sei ein sogenannter delegierter Rechtsakt und könne daher nur abgelehnt werden, wenn Deutschland 19 weitere EU-Staaten an seiner Seite hätte. „Das ist eine sehr hohe Hürde und ist voraussichtlich nicht der Fall“, sagte Merkel kürzlich in einem Interview.
Der Kernkraft-Defätismus der Noch-Kanzlerin alarmiert die Grünen zusätzlich. „Es ist von entscheidender Bedeutung, die Kommission von ihrer schlechten Idee abzubringen“, mahnt Giegold. „Es liegt weder im deutschen noch im französischen Interesse, dass eine Nebenfrage die Stimmung verdirbt und die Aussicht auf einen europapolitischen Neuanfang kaputt macht.“
Doch aus Sicht Frankreichs ist der Umgang mit der Kernenergie nicht verhandelbar. „Wir können die Taxonomie nicht ohne die Atomkraft denken“, sagte Finanzminister Bruno Le Maire vergangene Woche im Interview mit dem Handelsblatt. „Wir haben über Jahrzehnte in die Kernenergie investiert. Das ist ein Teil der französischen Identität und eine strategische Entscheidung.“
Etwa 70 Prozent des französischen Stroms stammen aus der Kernkraft, sie spielt in Frankreich eine Schlüsselrolle bei der Dekarbonisierung der Wirtschaft und der Herstellung von klimaneutralem Wasserstoff.
Frankreich sieht Kernkraft als Zukunftstechnologie
Bestätigt sieht sich die Regierung in Paris durch eine Analyse des Stromnetzbetreibers RTE, der mehrere Szenarien für Frankreichs Energieversorgung im Jahr 2050 durchgespielt hat. Das Resultat: Die Gesamtkosten für einen Umbau auf ausschließlich erneuerbare Energien lägen deutlich höher als bei einem Strommix mit Kernkraft.
Die französische Regierung will daher neue Kraftwerke bauen und die Entwicklung neuartiger Minireaktoren vorantreiben, die sogenannten Small Modular Reactors (SMR).
Der Nuklearindustrie hat sie kürzlich eine Milliarden Euro an staatlicher Unterstützung zugesagt. Paris setzt aber auch auf private Investitionen in die Atomkraft – die durch einen Ausschluss in der Taxonomie gefährdet wären.
Der Kompromiss, den Frankreich den Deutschen anbietet, lautet: Vorübergehend und „unter strikten Bedingungen“ könnte auch Gas unter die grünen Investitionsregeln fallen. „Wir wissen, dass Frankreich und Deutschland unterschiedliche Entscheidungen in der Energiepolitik getroffen haben“, so Le Maire. „Die Frage ist: Werden wir die Unterschiede hervorheben oder versuchen, eine Einigung zu finden?“
Allerdings dürfte auch Le Maire wissen: Für die Grünen in Berlin ist ein solcher Deal nicht akzeptabel, fossiles Gas kann aus ihrer Sicht genauso wenig als nachhaltig gelten wie Atomstrom.
Passt Atomkraft zum „Do No Significant Harm“-Prinzip?
Ziel der EU-Taxonomie ist es, Anlegern Orientierung zu geben und dazu beizutragen, dass mehr Geld in grüne Geschäftsfelder fließen. Um als nachhaltig zu gelten, müssen Investitionen das „Do No Significant Harm“-Prinzip erfüllen, also keinen signifikanten Schaden anrichten. Die entscheidende Frage der Kernkraft-Debatte lautet also: Was heißt signifikant?
Der wissenschaftliche Dienst der EU-Kommission kam schon vor ein paar Monaten zu dem Schluss, dass Atomkraft nicht gegen das „Do No Significant Harm“-Prinzip verstoße. Physiker des deutschen Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, kurz BASE, sehen das anders – und werfen der Kommissionsstudie methodische Mängel vor.
Allein die Tatsache, dass die Frage der Atommüll-Endlagerung bislang unbeantwortet ist, widerspreche einer grünen Klassifizierung, so die Experten der BASE. Weltweit gibt es bislang kein einziges nukleares Endlager. Einzig in Finnland wird derzeit eins gebaut.
Da jedoch jedes Land geologisch und von der Besiedlungsstruktur her einzigartig sei, könne dies kein Argument für andere Länder sein, weiterhin an Atomkraft festzuhalten. Atommüll müsse eine Million Jahre lang sicher verwahrt werden. Die geologischen Bedingungen in weit entfernter Zukunft ließen sich nicht zuverlässig vorhersagen, ebenso wenig wie das Verhalten der Menschen.
Österreich will vor den Europäischen Gerichtshof ziehen
Auch jenseits von der ungeklärten Atommüll-Problematik ist Kernenergie risikoreich: Berechnungen des Max-Planck-Instituts für Chemie zufolge kommt es statistisch gesehen alle zehn bis 20 Jahre zu einem Reaktorunfall. Je mehr Atomkraftwerke es auf der Welt gibt, desto geringer wird diese Zeitspanne.
Das EU-Recht sieht prinzipiell drei verschiedene Einstufungen von nachhaltigen Technologien vor – „grün“, „ermöglichend“ und „übergangsweise“. Atomkraft falle in keine der drei Bereiche, argumentieren Rechtsexperten der Anwaltssozietät Redeker Sellner Dahs in einer Studie für das österreichische Klimaschutzministerium.
Doch es spricht wenig dafür, dass sich die EU-Kommission noch umstimmen lässt. Nach derzeitigem Diskussionsstand will die Behörde Atomkraft als grünes Investment deklarieren, genau genommen den Bau und Betrieb der Kernkraftwerke. Uranabbau und -aufbereitung soll als „ermöglichende“ Technologie gelten, ebenso die Suche und der Betrieb von Atommüll-Endlagern und die Wiederverwertung von nuklearem Brennmaterial.
Danach müssen Rat und Parlament noch jeweils ihre Zustimmung geben – was voraussichtlich gesehen wird, da die Kernkraft-Befürworter in Brüssel in der Mehrheit sind.
Auf der Seite Frankreichs stehen Finnland, die Visegrad-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei, außerdem Slowenien, Kroatien, Rumänien und Bulgarien. Deutschland kann auf die Unterstützung Österreichs, Luxemburgs, Dänemarks und Portugals zählen.

Die Ampelkoalition hat noch nicht entschieden, ob sich Deutschland einer österreichischen Klage anschließen wird.
Österreich hat vorsorglich angekündigt, vor den Europäischen Gerichtshof ziehen zu wollen: „Sollte die Kommission einen Rechtsakt erlassen, der nicht mit den Grundlagen der Taxonomie vereinbar ist und die Hintertür für das Greenwashing von Atomkraft öffnet, werden wir das auch gerichtlich anfechten und einklagen“, sagte die österreichische Klimaschutzministerin Leonore Gewessler dem Handelsblatt.
Die Ampelkoalition hat sich noch nicht festgelegt, ob sich Deutschland der Klage anschließen wird. Grünen-Politiker Giegold will eine juristische Zuspitzung vermeiden und spricht sich für einen Kompromiss aus. Die Kommission müsse klarstellen, dass die Taxonomie nicht als Instrument zur Subventionssteuerung genutzt werde, mit dem in die souveräne Energiepolitik der EU-Staaten hineinregiert werden könne.
„Es wäre vollkommen undemokratisch, wenn Brüssel mit einem delegierten Rechtsakt die vertraglich garantierten Zuständigkeiten der Mitgliedsländer aushebeln würde“, sagt Giegold. Die Taxonomie müsse auf das zurückgeführt werden, was sie eigentlich sei: ein Leitfaden für Investoren, kein Masterplan zum Umbau der europäischen Wirtschaft.
Mehr: Europa-Kolumne: Die Atomkraft wird zurückkommen – ob Deutschland das will oder nicht
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Das Klima kann man nicht retten.Wie sollte das gehen ?Es hätte auch keinen Sinn.Die Kernspaltung wird allerdings für das nächste Jahrhundert eine wichtige Energiequelle sein,da zwar die Kohlevorräte noch 500-1000 Jahre reichen,bei heutigem Verbrauch ,Öl und Gas wesentlich früher erschöpft sind.Sogenannte Erneuerbare das Problem haben ,daß sie nicht dauernd zur Verfügung stehen und keine ausreichenden Speichermöglichkeiten existieren.Während Uran mit Wiederaufbereitung und Abbau armer Lagerstätten Jahrhunderte reicht ,Thorium ein Mehrfaches länger.Thorium hat darüberhinaus noch den Vorteil,daß der Abfall relativ kurzlebig ist.