Russland Wie in Kaliningrad ein Streit um Kant entbrannte

Unbekannte haben im November rosa Farbe auf die Statue des deutschen Philosophen Immanuel Kant geschmiert.
Moskau Mit dem Projekt „Große Namen Russlands“ will der Kreml den Patriotismus in Russland fördern. Die Bürger wurden aufgerufen, den Flughäfen von 47 Städten einen neuen Namen zu geben. Zur Abstimmung standen dabei jeweils mehrere historische Persönlichkeiten teils nationalen, teils regionalen Maßstabs. Die Beteiligung war durchaus rege. Offiziellen Angaben zufolge haben bis zum Ende rund fünf Millionen Russen abgestimmt.
Doch der Wettbewerb förderte nicht nur Stolz zutage, sondern führte teilweise auch zu Streit um die richtige Benennung. Besonders scharf wurde der Kampf in der russischen Ostsee-Exklave Kaliningrad ausgetragen. Dort sollte der Flughafen Chabrowo – bisher einfach nach der nächstgelegenen Ortschaft benannt – eine neue Bezeichnung erhalten. Plötzlich aber lag in der Abstimmung der Philosoph Immanuel Kant vorn.
Tatsächlich lieben die Kaliningrader „ihren“ Kant. Sein Grab, an der Rückseite des alten, in den 90er-Jahren wieder aufgebauten Königsberger Doms gelegen, ist Wallfahrtsort für junge Brautpaare. Auf dem Weg vom oder zum Standesamt legen viele Bräute dort ebenso selbstverständlich Blumen ab wie am Mahnmal der 1200 Gardisten mit dem ewigen Feuer, das an die bei der Erstürmung Königsbergs gefallenen sowjetischen Soldaten erinnert.
In den Neunzigerjahren und Anfang der 2000er-Jahre liefen rege Diskussionen in der Stadt zur Umbenennung. Der Namensgeber Michail Kalinin hatte mit der Stadt nichts zu tun. Lediglich sein Tod am 3. Juni 1946 fiel zeitlich mit der sowjetischen Umbenennungskampagne in Ostpreußen zusammen.
Die Rückbenennung in Königsberg schied aus, um eventuellen Rückforderungsansprüchen zuvorzukommen. Aber der Name Kantgrad schien vielen Bürgern durchaus eine würdige Alternative, um die russische und deutsche Geschichte der Stadt zu vereinen.
Und so führte der Verfasser der „Kritik der reinen Vernunft“ tatsächlich lange Zeit die Liste der Anwärter auf den Namenszug des Flughafens Chabrowo an. Doch ebenso kategorisch wie Kants Imperativ ist die Ablehnung russischer Nationalisten gegenüber dem deutschen Philosophen.
Im November beschmierten Unbekannte zunächst das vor der Universität stehende Denkmal Kants – auch dieses in den 1990er-Jahren originalgetreu einem 1946 verschwundenen Monument des Bildhauers Christian Rauch nachgebaut – mit rosa Farbe.
Und nun tauchte ein Video mit einer Hasstirade des Stabschefs der Baltischen Flotte, Igor Muchametschin, gegenüber Kant auf. Dieser Kant sei ein „Vaterlandsverräter“ und zugleich ein „Fremder“, sagte er, obwohl Kant sein ganzes Leben in der Gegend von Königsberg zugebracht hatte – darunter während des Siebenjährigen Kriegs auch zwei Jahre unter russischer Herrschaft.
„Er hat sich erniedrigt und ist auf Knien gerutscht, damit sie ihm einen Lehrstuhl geben“, höhnte der Vizeadmiral. Jemand, der „unverständliche Bücher, die niemand der Anwesenden hier gelesen hat oder jemals lesen wird, geschrieben hat“, könne wohl kaum als Namensgeber für den Flughafen dienen, erklärte der hochrangige Offizier bei einem Appell vor versammelter Mannschaft.
Stattdessen sollten die Soldaten und Matrosen ihre Angehörigen dazu bewegen, für den Feldmarschall Alexander Wassiljewski zu stimmen, forderte Muchametschin seine Untergebenen auf. Dieser sei nämlich dafür verantwortlich, dass Kaliningrad überhaupt russisch und die Baltische Flotte in der Region stationiert sei.
Wassiljewski hatte während des Zweiten Weltkriegs als Oberbefehlshaber der 3. Weißrussischen Front den Sturm auf Königsberg geleitet.
„Ich bitte, das nicht nur als persönliche Bitte, sondern als Appell des militärischen Flottenrats und der Führung anzusehen“, schloss Muchametschin. Es gehe nicht an, dass der Flughafen eines Gebiets, „auf dem das Blut von sowjetischen Soldaten und Offizieren geflossen ist, den Namen eines Ausländers trägt“, schloss der Vizeadmiral seine Rede unter Applaus.
Und der Widerstand der Nationalisten scheint Erfolg gehabt zu haben. Im Endspurt wurde Kant in der Onlineabstimmung noch auf den dritten Platz zurückgeworfen. Ganz knapp vor ihm landete Wassiljewski. Es siegte freilich Zarin Elisabeth (Jelisaweta Petrowna). Ihr Verdienst um Kaliningrad ähnelt dem Wassiljewskis.
Sie hatte im Siebenjährigen Krieg erstmals Königsberg für Russland erobert. Die Stadt wurde erst nach dem Tod der Zarin von ihrem Nachfolger Peter III., einem glühenden Verehrer des Preußenkönigs Wilhelm II., an Preußen zurückgegeben. Ihr Sieg kann durchaus als Stimmungsbarometer für die aktuelle politische Stimmung in Russland gelten. Reiner Patriotismus ist derzeit mehr gefragt als reine Vernunft.
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