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Brasilien Pandemie-Katastrophe in Brasilien: Unternehmer kündigen Bolsonaro das Vertrauen

Nirgendwo wütet das Coronavirus so schlimm wie in Brasilien. Das Land steuert in die Stagflation. Investoren, Banker und CEOs gehen mit der Regierung hart ins Gericht.
05.04.2021 - 12:58 Uhr 4 Kommentare
Der brasilianische Präsident steht von vielen Seiten unter Druck. Doch auch sein Anhänger gingen auf die Straße. Quelle: AFP
Jair Bolsonaro

Der brasilianische Präsident steht von vielen Seiten unter Druck. Doch auch sein Anhänger gingen auf die Straße.

(Foto: AFP)

Salvador Erst waren es ein paar Dutzend, dann Hunderte, schließlich unterschrieben mehr als 1500 Finanzinvestoren, Banker, Unternehmer und Ökonomen einen offenen Aufruf an die Regierung: „Das Land verlangt Respekt; das Leben braucht Wissenschaft und eine gute Regierung“, lautete der Titel.

In 2700 Worten forderte die Elite der brasilianischen Wirtschaft von der Regierung, sie solle öffentliches Maskentragen empfehlen, Vorkehrungen zur sozialen Distanzierung treffen und den Kampf gegen die Corona-Pandemie national koordinieren – alles eigentlich offensichtliche Selbstverständlichkeiten bei der Bekämpfung einer Viruspandemie. Doch nicht in Brasilien unter Jair Bolsonaro.

Ein Jahr lang hat der Präsident Corona als harmlose Grippe verleugnet. Nirgendwo auf der Welt infizieren sich und sterben derzeit so viele Menschen an dem Coronavirus wie in Brasilien. Bolsonaro hat den Kauf von Vakzinen noch im Januar behindert. Und er hat versucht, Gouverneure, die Lockdowns und Ausgangssperren verhängten, über den Obersten Gerichtshof daran zu hindern. Da klingen solche Forderungen nach einem Minimum an Krisenmanagement tatsächlich fast revolutionär.

Das Manifest hat in Brasília für Aufregung gesorgt – obwohl der Präsident nicht namentlich darin auftaucht. Im Kongress, den Bolsonaro mit Privilegien und großzügigen Budgets gefügig hält, äußerten die Vorsitzenden erstmals vorsichtig Kritik am irrlichternden Staatsoberhaupt.

Ohne die Unterstützung der Unternehmer muss Bolsonaro um seine Wiederwahl im kommenden Jahr fürchten

Der Rechtspopulist reagierte schnell: Flugs wandelte er einige seiner Positionen um 180 Grad. Jetzt gibt er sich plötzlich als Impfunterstützer der ersten Stunde, gründete einen Krisenstab und trägt seitdem bei öffentlichen Anlässen Maske, was er bisher in der Pandemie noch nie gemacht hat. Seine Regierungsmannschaft bildete er ebenfalls um.

Der verbindlich gehaltene Aufruf der Wirtschaft hat in Bolsonaros Küchenkabinett – bestehend aus seinen Söhnen und einem halben Dutzend Reservegenerälen – die Alarmglocken läuten lassen, denn die Wirtschaft war nicht nur entscheidend für den Wahlsieg des Hinterbänklers 2018 gewesen. Unternehmer zählen bis heute zu den stärksten Unterstützern des Präsidenten.

55 Prozent der Unternehmer halten die Arbeit der Regierung Bolsonaro in der Pandemie für gut, gegenüber rund 30 Prozent der Bevölkerung, so eine Umfrage des Instituts Datafolha vor zwei Wochen. Außerhalb des eingeschworenen Kreises von Bolsonaro-Fans wie Evangelikalen, Diktaturnostalgikern oder Soldaten und Polizisten zählen Unternehmer zu den wichtigsten Unterstützern des Ex-Hauptmanns im Präsidentenpalast. Verliert er deren Unterstützung, ist seine Wiederwahl Ende 2022 bedroht.

„Normalerweise widerstrebt es der Wirtschaftselite zutiefst, die Regierung zu kritisieren oder sich mit einem Präsidenten anzulegen“, sagt der Politologe Luiz Felipe d‘Avila. „Doch jetzt ist die Lage so ernst, dass sie sich erstmals gegen die Regierung vereint.“

Menschen sterben in Warteschlangen vor den Krankenhäusern – drei Mutationen grassieren

Es gibt zwei Gründe für die wachsende Enttäuschung der Wirtschaft über Bolsonaro: sein katastrophales Krisenmanagement in der Pandemie, das die wirtschaftliche Erholung weiter in die Zukunft verschiebt. Und die nicht erfüllten Reformversprechen für die Wirtschaft andererseits.

320.000 Menschen sind in Brasilien, einem Land mit 211 Millionen Einwohnern, bereits an Corona gestorben, rund 3500 sind es derzeit Tag für Tag – immer mehr davon in den Warteschlangen vor den überfüllten Krankenhäusern. Ein Viertel aller weltweit erfassten Corona-Toten sind Brasilianer, obwohl der Anteil an der Weltbevölkerung gerade einmal drei Prozent ausmacht.

Es scheint, dass die neuen Mutationen – inzwischen sind bereits drei neue Varianten nachgewiesen – schneller, länger und tödlicher infizieren als die der ersten Welle.

Zwar hat Brasilien Mitte Januar begonnen zu impfen. Mit 18 Millionen verteilten Impfdosen sind aber erst rund acht Prozent der Bevölkerung mit der ersten Spritze geimpft. Das wird am dramatischen Pandemieverlauf wenig ändern. Der renommierte Arzt Drauzio Varella sagt: „Selbst wenn wir morgen alle Brasilianer impfen würden, würden die Sterberaten noch weiter zulegen.“

Die Wirtschaft fürchtet nun, dass sie die zweite heftige Corona-Welle viel stärker treffen könnte als die erste. Im vergangenen Jahr konnte die Regierung noch mit gewaltigen Sozialhilfen die Folgen der Pandemie mildern. Nun sind die Kassen leer.

Das Land wurde durch die Coronavirus-Pandemie hart getroffen. Quelle: dpa
Brasilien

Das Land wurde durch die Coronavirus-Pandemie hart getroffen.

(Foto: dpa)

Die neue Corona-Welle trifft die Wirtschaft härter – auch deutsche Autobauer legen die Bänder still

Nur noch rund drei Prozent Wachstum erwarten die Ökonomen für Brasilien in diesem Jahr, nachdem die Wirtschaft im vergangenen Jahr um vier Prozent eingebrochen ist. Frühestens 2022 wird die Wirtschaft also wieder auf das Niveau vor der Coronakrise kommen.

Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei mehr als 14 Prozent. Alberto Ramos von Goldman Sachs schätzt, dass ein Drittel der brasilianischen Arbeitskräfte unterbeschäftigt oder arbeitslos ist.

Sieben Fahrzeughersteller haben nun für Werksferien geschlossen. Volkswagen war der erste Autobauer, der ankündigte, für zehn Tage seine vier Werke in Brasilien zu schließen. Man wolle nicht die Gesundheit der Belegschaft riskieren, so die Begründung. Andererseits fehlen Teile wie Halbleiter und Chips. Die Verarbeitungsketten vor allem in der Industrie sind zunehmend gestört. Inzwischen haben sieben Autobauer ihre Bänder stillgelegt – darunter auch Daimler.

Bisher hoffte die Wirtschaft, dass die steigenden Rohstoffpreise – von Soja und Eisenerz, Mais und Baumwolle bis zu Kaffee und Kakao – einen Konjunkturschub auslösen könnten. Jetzt scheint es immer weniger wahrscheinlich, dass ein größerer Exportüberschuss die Binnenkonjunktur beleben könnte.

Die Agrarbranche boomt – doch es droht eine Stagflation im Land

Den deutschen Konzernen im Land rettet derzeit das gute Abschneiden der Agroindustrie das Geschäft in Brasilien: Das gilt für VW und Mercedes, die Trucks und Transporter an die Speditionen und Farmer liefern. Aber auch BASF und Bayer profitieren als Zulieferer vom Boom der Landwirtschaft. Konzerne wie Bosch und Siemens haben ihr Portfolio seit einigen Jahren auf die Agrobranche umgestellt.

Brasilien hat seine Position als wichtigster Agrarlieferant der Welt in den vergangenen Jahren noch ausgebaut. Das ist wichtig gerade für deutsche Konzerne dort: Denn trotz des schwachen Wachstums seit fast einer Dekade ist Brasilien, die mit Abstand größte Ökonomie Lateinamerikas, immer noch einer der wichtigsten Überseemärkte für die deutsche Industrie.

Für Konsumgüterhersteller sind die Aussichten dagegen schlechter: Trotz der Stagnation hat die Zentralbank erstmals wieder die Zinsen erhöht. Denn die Inflation nimmt wieder zu. Um 5,2 Prozent sind die Preise insgesamt gestiegen. Lebensmittel aber erleben den stärksten Preisanstieg seit 18 Jahren – und den spüren vor allem die ärmeren Brasilianer besonders stark. Brasilien steuere auf eine Stagflation zu, fürchtet Solange Srour, Ökonomin von Credit Suisse in Brasilien.

Unternehmer wie Finanzinvestoren sind zudem enttäuscht von Bolsonaros Wirtschaftskurs. Liberale Reformen hat er ihnen im Wahlkampf versprochen. Privatisierungen von Staatsunternehmen im Wert von 250 Milliarden Dollar kündigte der Wirtschaftsminister und Chicago-Ökonom Paulo Guedes vollmundig an. Davon ist unter dem Strich wenig umgesetzt worden.

Zwar ist es der Regierung gelungen, die bereits eingetüteten Reformen von Bolsonaros Vorgänger Michel Temer durch den Kongress zu bekommen. Etwa eine Rentenreform, die Autonomie der Zentralbank und neue Gesetze für die Beteiligung privater Unternehmen in der kommunalen Wasser- und Gasversorgung.

„In Brasilien hat sich in den letzten Jahren durchaus einiges zum Besseren für die Wirtschaft verändert“, sagt Rainer Köllgen von der Nexia-Unternehmensberatung in São Paulo. Das gelte für das Arbeits- und Insolvenzrecht oder etwa die Vertragsfreiheit.

Militärs rücken in die Staatskonzerne – doch Bolsonaro erzürnt die Kommandanten

Dennoch: Für die großen Reformen des Steuersystems und der Bürokratie gibt es nicht einmal Gesetzesvorlagen. Statt zu privatisieren besetzt der Präsident wichtige Posten in den Staatsunternehmen mit Vertrauten: Das sind meistens Militärs. Inzwischen sind 6.000 Militärs in Staatskonzernen und der Bürokratie beschäftigt, hat der Rechnungshof gerade festgestellt. 100 Militärs sitzen an wichtigen Schlüsselpositionen im Staat.

Eben hat Bolsonaro einen General an die Spitze von Petrobras gesetzt, der dafür sorgen soll, dass die Benzinpreise niedrig bleiben. Dabei war der von jahrelanger Korruption und Misswirtschaft gebeutelte Energiekonzern gerade wieder auf dem Weg der Besserung gewesen. Ein Dutzend Staatssekretäre hat in den letzten Monaten das Wirtschaftsministerium verlassen, weil sie keine Hoffnungen mehr haben, dass es noch zu Reformen kommt.

Wie immer, wenn Bolsonaro unter Druck kommt, versucht er im Stil seines Vorbilds Donald Trump, mit einem neuen Skandal abzulenken. Diese Woche entließ er bei einer Kabinettsumbildung gleich sechs Minister. Dabei sorgte vor allem die Entlassung des Verteidigungsministers für Aufregung, weil mit ihm aus Protest die Kommandanten der Luftwaffe, Marine und des Heeres ebenfalls zurücktraten.

Den Generälen missfällt, vom rangniedrigen Ex-Hauptmann herumkommandiert zu werden. Die Opposition warnt vor Bolsonaros zunehmend autoritärer Machtausweitung.

Doch zunächst ist das Kalkül für Bolsonaro wieder aufgegangen: Das ausgelöste Chaos verdrängte die Nachricht, dass die Zahl der Corona-Toten im März auf 66.000 Menschen gestiegen ist – doppelt so viel wie im Februar. Es sind fast so viele Tote in einem Monat wie in Deutschland seit Beginn der Pandemie.

Mehr: Wie Brasiliens Präsident in die chinesische Falle tappte.

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  • Brasilien, Arbeitslosigkeit bei 14 %. Da hat die junge Bevölkerung richtig was davon.
    Autark: In der Automobilbranche stehen amerikanische und deutsche Konzerne an der Spitze.
    wirtschaftsliberal. Das ist ja wohl ein Witz. Militärs regieren die Wirtschaft und setzen den politischen Willen Bolsonaros um. Scheint nicht sehr wirtschaftlich oder wirtschaftsliberal zu sein.
    Der deutsche Wirtschaftsaufschwung hinkt, aber in Brasilien gehen gerade rote Lämpchen an, scheint mir.
    Seit 2011 stürzt das Bruttoinlandsprodukt ab, wie eine Teslarakete.

  • @ Benjamin Schenke

    Nur kurzfristig rettet man mehr, nur kurzfristig.
    Das dicke Ende kommt mit Währungszusammenbruch und Hyperinflation.
    Wenn Sie jedoch meinen, die Zentralbank kann beliebig lange ersatzweise das fehlende Geld drucken, das aufgrund der Lock- und Shutdowns nicht erwirtschaftet werden kann - und es würde absolut nichts passieren, bitteschön.

  • Herr Metz:
    dieser großartigen Erholung werden nur leider zehntausende Menschen geopfert, die man möglicherweise hätte retten können. Toll!

  • Drei entscheidende Gründe, weshalb Brasilien um ein Vielfaches besser aus der Pandemie-Krise kommen wird als Deutschland:
    1. Brasilien hat ein Durchschnittsalter der Bevölkerung von 33,5 Jahren (2020) im Gegensatz zu 45,5 Jahren in Deutschland
    2. Brasilien ist nahezu autark, Deutschland ist das keinesfalls
    3. Brasilien hat eine wirtschaftsliberale Regierung (...)

    (...) Beitrag von der Redaktion editiert. Bitte bleiben Sie sachlich.

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