Brexit Vier Szenarien: So könnte der Kampf zwischen Premier Johnson und dem Parlament ausgehen

Der britische Premier prescht im Parlament vor – auch aus Berechnung.
London Das britische Parlament ist bis auf den letzten Platz gefüllt, als Boris Johnson am Donnerstag zum ersten Mal an das Pult des Premierministers tritt. Niemand will verpassen, wie der wortgewaltige Tory Oppositionsführer Jeremy Corbyn vorführt. Der Regierungschef bekräftigt sein Hauptziel, den Brexit am 31. Oktober durchzuziehen, ohne Wenn und Aber. Das sei möglich, ruft Johnson, denn „dieses Land wird unterschätzt“. Corbyn reagiert blitzschnell. „Keiner unterschätzt dieses Land“, kontert er. Die Briten seien vielmehr besorgt, dass Johnson „sich selbst überschätzt“. Der Premier habe keinen Plan für den Brexit.
Der Schlagabtausch gibt einen Vorgeschmack auf die kommenden Monate. Johnson will den Brexit um jeden Preis. Notfalls soll Großbritannien die EU ohne Vertrag verlassen, die dann drohende Rezession will er in Kauf nehmen. Eine Mehrheit der Parlamentarier jedoch will einen solchen ungeordneten Brexit ebenso entschlossen verhindern.
Damit stehen die Zeichen auf Machtkampf, wieder einmal. Johnsons Vorgängerin Theresa May war letztlich am Unterhaus gescheitert. Dreimal hatten die Abgeordneten ihren Brexit-Deal abgelehnt und ihr so kaum noch eine andere Wahl als den Rücktritt gelassen.
Nun sucht Johnson die Auseinandersetzung. Schon seine ersten Personalentscheidungen am Mittwoch waren eine Kampfansage. Nach seiner Ernennung zum Premierminister durch Queen Elizabeth II. hatte er binnen Stunden das halbe Kabinett gefeuert und durch Brexit-Hardliner ersetzt. Es war der brutalste Kahlschlag seit Jahrzehnten.
Während May ihr Kabinett noch sorgfältig zwischen Remainern und Leavern austariert hatte, regiert bei Johnson nun allein der Brexit-Flügel. „Die konservative Partei wurde vollständig von der harten Rechten übernommen“, kommentierte der Abgeordnete Nick Boles, der die Tories vor kurzem unter Protest verlassen hatte. „Sie verwandeln sich in die Brexit-Partei, um Nigel Farage abzuwehren.“
Alle Minister mussten sich dazu bekennen, einen ungeordneten Brexit mitzutragen. Johnson will keine Rebellion in den eigenen Reihen, wie May sie am laufenden Band erlebte.
Wie der Kampf zwischen Premier und Parlament ausgeht, ist nicht klar. Mehrere Szenarien sind denkbar.
Szenario 1: Neuer Deal
Johnson schafft es, den EU-Ausstiegsvertrag in Brüssel nachzuverhandeln. Die Europäer machen ihm genug Zugeständnisse, so dass er das Vertragswerk im Unterhaus als „neuen Deal“ verkaufen kann. Die Abgeordneten winken es durch, weil sie den Brexit abhaken und Neuwahlen vermeiden wollen. Das wäre Johnsons Plan A. Die große Frage ist, ob die EU-27 mitspielen. Johnson fordert, den nordirischen Backstop zu streichen. Das lehnen die Europäer kategorisch ab. Sie halten daran fest, dass der Ausstiegsvertrag fertig verhandelt ist. Ein Kompromiss ist schwer zu erkennen, zumal jetzt erst einmal Sommerferien sind.
Wahrscheinlichkeit: Sehr unwahrscheinlich
Szenario 2: No Deal
Wenn die Europäer hart bleiben, will Johnson den Brexit ohne Vertrag am 31. Oktober durchziehen. Das Datum ist im Brexit-Gesetz bereits festgeschrieben. Wenn das Unterhaus nicht vorher etwas anderes beschließt, wird Großbritannien automatisch aus der EU ausscheiden. Das Land würde über Nacht zum Drittstaat. Die EU würde Grenzkontrollen einführen und Zölle auf britische Produkte erheben. Ökonomen sagen für diesen Fall eine Rezession in Großbritannien voraus. Johnson setzt darauf, dass sich die schlimmsten Folgen durch Übergangsregelungen abmildern lassen.
Wahrscheinlichkeit: Eher unwahrscheinlich
Szenario 3: Neuwahlen
Sollte Johnson den No Deal versuchen, will das Parlament ihn daran hindern. „Wir müssen Johnson Handschellen anlegen“, sagt der Fraktionschef der schottischen Nationalisten, Ian Blackford. Notfalls werde man mit einem Misstrauensvotum seine Regierung zu Fall bringen – und ihn gleichzeitig dazu zwingen, in Brüssel einen Aufschub zu beantragen.
Dafür müssten die Oppositionsparteien Labour, SNP und Liberaldemokraten an einem Strang ziehen – und noch einige Tories dazu bewegen, gegen die eigene Regierung zu stimmen. Das gilt als machbar, denn Johnson hat nur noch eine Mehrheit von drei Stimmen. Mehrere pro-europäisch gesinnte Tories haben angekündigt, gegen Johnson zu stimmen. Mit der Entlassung des halben May-Kabinetts dürfte er sich noch neue Feinde gemacht haben.
Ein Misstrauensvotum würde jedoch wohl erst kurz vor der Frist im Oktober stattfinden, wenn der ungeordnete Brexit direkt bevorsteht. Die Neuwahl könnte dann erst für Ende November oder Dezember angesetzt werden. Das heißt, Johnson müsste bei der EU doch noch einmal um Brexit-Aufschub bitten. Im Wahlkampf würde er sich dann als Verteidiger des britischen Volkes gegenüber der uneinsichtigen EU empfehlen. Im Idealfall hätte er danach eine stabile Mehrheit, um den ungeordneten Brexit durchzuziehen. Falls nicht, würde der Machtkampf mit dem Parlament weitergehen.
Wahrscheinlichkeit: Ziemlich wahrscheinlich
Szenario 4: Zweites Referendum
Eine Mehrheit im Unterhaus fordert die Regierung auf, ein zweites Referendum über den EU-Ausstieg anzusetzen. Das könnte Johnson kaum ignorieren. Er könnte auch die Flucht nach vorn antreten und von sich aus eine neue Volksabstimmung ankündigen. Gewinnt er sie, könnte er ein klares Mandat für den ungeordneten Brexit haben.
Ein solches Votum würde den Druck auf das Parlament erhöhen. Sollten die Briten sich hingegen für den Verbleib in der EU entscheiden, wäre Johnson wohl gezwungen, den Ausstiegsantrag in Brüssel zurückzuziehen. Der größte Haken: Bisher hat sich noch keine Mehrheit für ein zweites Referendum im Unterhaus gefunden. Und aus Johnsons Sicht wäre es ein riskantes Manöver.
Wahrscheinlichkeit: Nahezu ausgeschlossen
Johnson scheint sich darauf einzustellen, bald Wahlkampf zu führen. Er hat die führenden Köpfe der erfolgreichen Brexit-Kampagne von 2016 in seinen inneren Zirkel geholt. Vor allem die Personalie Dominic Cummings sorgte für Aufmerksamkeit. Der Erfinder des Slogans „Take back control“ wird der wichtigste politische Berater in der Downing Street.
Weder Neuwahlen noch ein zweites Referendum böten allerdings eine Garantie, die verfahrene Situation aufzulösen. Im Gegenteil: Bei einem Referendum wäre es durchaus wahrscheinlich, dass das erste Votum bestätigt wird, bei Neuwahlen droht erneut ein Patt im Parlament.
Die EU ist in den vergangenen Jahren nicht beliebter geworden. Die Lage könnte sogar noch unübersichtlicher werden, wenn die Brexit-Partei und die Liberaldemokraten wie bei der Europawahl hinzugewinnen. Johnson wird bald merken: Einfache Optionen gibt es beim Brexit nicht.
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