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Brexit Zugeständnis an London: EU-Kommission will 80 Prozent der Kontrollen an Nordirlandgrenze abschaffen

Die EU will die Grenzbürokratie in Nordirland massiv reduzieren. Auch nach dieser Geste bleibt jedoch eine Streitfrage, die einen Handelskrieg auslösen kann.
13.10.2021 Update: 14.10.2021 - 06:57 Uhr Kommentieren
Der Kommissionsvizepräsident bietet an, die Grenzkontrollen in Nordirland massiv zu reduzieren. Quelle: REUTERS
Maros Sefcovic

Der Kommissionsvizepräsident bietet an, die Grenzkontrollen in Nordirland massiv zu reduzieren.

(Foto: REUTERS)

Brüssel, London Die EU-Kommission kommt im Nordirlandstreit der britischen Regierung weit entgegen. Sie will die Zollkontrollen an der Seegrenze zwischen Großbritannien und Nordirland deutlich verringern. Auch sollen nordirische Interessenvertreter mehr Mitspracherechte bei der Umsetzung des Nordirlandprotokolls erhalten.

„Das Paket hat das Potenzial, einen wirklichen Unterschied vor Ort zu machen“, sagte der Brexit-Beauftragte der EU-Kommission, Vizepräsident Maros Sefcovic, bei der Vorstellung der Reform am Mittwoch in Brüssel. Er legte vier Dokumente zu den Bereichen Zoll, Hygienekontrollen, Medikamente und Governance vor. Man habe allen Gruppen in Nordirland zugehört und ihre Kritik am Protokoll aufgenommen, sagte Sefcovic.

Unter anderem bietet die EU an, die Grenzkontrollen für 80 Prozent der Güter zu streichen. Das würde bedeuten, dass nur halb so viele Lastwagen wie bisher kontrolliert werden müssten. Lastwagen mit Waren, die ausschließlich für Nordirland bestimmt sind, dürfen unkontrolliert ins Land.

Insbesondere britische Lebensmittel und Medikamente sollen einfacher nach Nordirland eingeführt werden können. Die Vorschriften für tierische und pflanzliche Produkte würden massiv gelockert. Das Importverbot für frisches Hackfleisch und Würstchen wird aufgehoben. Für große Supermarktlieferungen mit unterschiedlichen Lebensmitteln wären künftig nicht mehr einzelne Gesundheitsbescheinigungen für jedes Produkt nötig, sondern nur noch eine für die gesamte Ladung.

„Wir zeigen große Flexibilität, aber die verbleibenden Kontrollen müssen ordentlich durchgeführt werden“, sagte Sefcovic. Deshalb müsse die britische Regierung die zugesagten Grenzposten einrichten und klare Produktlabel einführen. Auch müsse die elektronische Überwachung der Lieferketten verbessert werden. Bisher erhalten die EU-Grenzbehörden die britischen Zollinformationen ex post. Ab Anfang 2022 sollen sie Echtzeitzugriff auf die Datenbanken bekommen.

Friedensangebot von Sefcovic

In Nordirland wurden die Vorschläge der EU begrüßt. Auch in London wurde mit Wohlwollen registriert, dass die EU-Kommission nun auf die Beschwerden über das Nordirlandprotokoll eingeht.

Britische Unternehmen kämpfen seit dem Brexit am Jahresanfang mit der neuen Grenzbürokratie. Weil Nordirland als einziger britischer Landesteil weiterhin Teil des Europäischen Binnenmarkts ist, werden Lieferungen aus dem Rest Großbritanniens bei der Ankunft in den nordirischen Häfen kontrolliert. In der Folge ist der Handel zwischen Nordirland und dem britischen Festland eingebrochen.

Die britische Regierung hatte daher im Juli gefordert, das 2019 vereinbarte Nordirlandprotokoll neu zu verhandeln. „Es funktioniert nicht“, wiederholte Brexit-Minister David Frost am Dienstag in einer Rede in Lissabon. Es müsse grundlegend geändert werden.

Mit dem Abbau der Grenzbürokratie macht Sefcovic seinem Verhandlungspartner Frost nun ein Friedensangebot. Auf eine zentrale britische Forderung ging der Kommissionvize aber nicht ein.

Frost: EuGH als letzte Instanz der Protokollüberwachung streichen

Frost fordert, den Europäischen Gerichtshof (EuGH) als letzte Instanz für die Überwachung des Protokolls zu entfernen. Aus seiner Sicht kann ein souveräner Staat keine fremde Gerichtsbarkeit auf seinem Territorium akzeptieren. Der Brexit-Minister plädiert stattdessen für unabhängige Schiedsgerichte, wie sie bei Handelsabkommen üblich sind.

Für die EU ist die Rolle des Gerichtshofs hingegen nicht verhandelbar, schließlich ist die Kontrollinstanz ein unverzichtbarer Teil des Binnenmarkts. Obendrein hat Großbritannien der Rolle des EuGH im Ausstiegsvertrag zugestimmt.

Zwar wich Sefcovic der Frage nach dem EuGH in der Pressekonferenz am Mittwoch aus. „Unser Ziel ist es heute, positiv zu bleiben und uns auf die Vorteile des Pakets für Nordirland zu konzentrieren“, sagte er.

Aber die Haltung der Kommission ist klar. „Das Nordirlandprotokoll soll den EU-Binnenmarkt auf Nordirland ausweiten. Und das ist verbunden mit dem EuGH“, sagt ein hoher EU-Beamter. „Wer den EuGH nicht akzeptiert, der drängt Nordirland aus dem Binnenmarkt.“

Nordirland ist nur im Binnenmarkt, weil Briten und Europäer Grenzanlagen vermeiden wollen

Die Frage klingt technisch, ist aber zentral. Denn Nordirland ist nur deshalb im Binnenmarkt, weil Briten und Europäer jegliche Grenzanlagen an der EU-Außengrenze zwischen Irland und Nordirland vermeiden wollten. Wenn Nordirland den Binnenmarkt verließe, müssten die Grenzkontrollen an der Landgrenze stattfinden. Die Grenzposten könnten wie in der Vergangenheit zum Angriffsziel militanter Nationalisten werden.

Die Taktik der EU ist es, möglichst nicht über den großen Streitpunkt EuGH zu sprechen, sondern über praktische Fragen, in denen sich der Alltag der Nordiren verbessern lässt. Wenn die britische Regierung denselben Pragmatismus zeige, anstatt sich auf abstrakte Dinge wie den Gerichtshof und die Souveränität zu konzentrieren, dann ließen sich die Differenzen überbrücken, meint der EU-Beamte.

In den kommenden Wochen wollen Frost und Sefcovic ihre Gespräche intensivieren. Eine Einigung ist allerdings noch nicht in Sicht. Denn Frost hatte bereits am Dienstag betont, dass das neue Angebot der EU nicht ausreichend sei. Er pocht weiter auf die Entfernung des Gerichtshofs aus dem Protokoll. Derzeit werde europäisches Recht in Nordirland angewandt, ohne dass die Bevölkerung ein Mitspracherecht habe, sagte Frost. Das sei ein unhaltbarer Zustand. 

Bewege sich die EU in der Frage nicht, werde Großbritannien den Artikel 16 des Protokolls bemühen und die Grenzkontrollen aussetzen, drohte der Minister. Dies wiederum könnte die EU zum Anlass für einen Gegenschlag nehmen: Sie könnte Strafzölle auf britische Produkte verhängen, ein Handelskrieg wäre die Folge. In Brüssel heißt es, man sei mit der Geduld mit den Briten am Ende.

Europäer bleiben misstrauisch

Das Misstrauen der Europäer in die Downing Street erhielt am Mittwoch neue Nahrung durch Äußerungen des ehemaligen Chefberaters von Premier Boris Johnson. Dominic Cummings twitterte, die Regierung habe von Anfang an geplant, das Nordirlandprotokoll zu einem späteren Zeitpunkt zu kippen. Es sei die Aufgabe der Regierung, „Ausländer zu täuschen“, verteidigte der Ex-Berater das Vorgehen.

Cummings ist seit seiner Entlassung durch Johnson auf einem Rachefeldzug, daher sind seine Äußerungen mit Vorsicht zu genießen. Doch schlugen sie umgehend Wellen in der EU. „Diese Äußerungen sind sehr alarmierend, weil sie nahelegen, dass die Regierung in böser Absicht gehandelt hat“, sagte der irische Vizeministerpräsident Leo Varadkar dem Sender RTE. Varadkar hatte das Nordirlandprotokoll damals als Ministerpräsident mit Johnson vereinbart. Die Lehre für Regierungen in aller Welt sei, dass diese britische Regierung ihr Wort nicht unbedingt halte, so Varadkar.

Der Industrieverband BDI hat im Streit um Brexit-Sonderregeln die EU und Großbritannien zur Vertragstreue gemahnt. „Weder die Briten noch die EU dürfen am Vertragswerk rütteln“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Joachim Lang, der Deutschen Presse-Agentur. „Beide Seiten müssen ohne Wenn und Aber zu ihren Verpflichtungen stehen. Es braucht Stabilität in der neuen Partnerschaft, damit wechselseitige Investitionen auch in Zukunft erfolgreich sind.“

Lang forderte, die britische Regierung dürfe sich einem konstruktiven Umgang bei der Umsetzung des Nordirland-Protokolls nicht verweigern. „Sonst müssen alle Beteiligten Zollspiralen und weitere handelspolitische Gegenmaßnahmen fürchten“, sagte er und nahm London in die Pflicht. „Verlässlichkeit ist unverzichtbar, um die Zusammenarbeit auf wichtigen wirtschaftspolitischen Feldern zu vertiefen. Dazu zählen die grüne Transformation, Digitalisierung, Forschung und Entwicklung.“

Mehr: Großbritannien und EU steuern auf einen Handelskrieg zu.

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