Bürgerkrieg und Terror Luftbrücke geht zu Ende – Nun beginnt in Afghanistan eine neue Phase der Angst

Die Lage vor Ort bleibt unübersichtlich und gefährlich.
Washington Als Joe Biden im Frühjahr den Abzug aus Afghanistan ankündigte, versprach der US-Präsident das „Ende von 20 Jahren Blutvergießen“. Nie wieder wollte er Angehörigen des Militärs sein Beileid aussprechen müssen.
Doch am Sonntag, am Ende von zwei Wochen im Ausnahmezustand, musste Biden seine bislang schwerste Reise zu trauernden Familien antreten. Auf dem Luftwaffenstützpunkt in Dover nahm er die sterblichen Überreste der 13 amerikanischen Soldaten und Soldatinnen in Empfang.
Die jungen Männer und Frauen waren am Donnerstag am Kabuler Flughafen getötet worden, als sich ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengte. Außerdem starben mehr als 170 Afghanen, die sich in der Hoffnung auf Evakuierung vor den Sicherheitsschleusen versammelt hatten.
Am Freitag dann hatte Washington erstmals einen Luftschlag gegen den afghanischen Zweig des Islamischen Staat (IS-K) verübt. Die Terrorgruppe reklamiert für sich, die Attacken in Kabul ausgeführt zu haben. Die Lage vor Ort sei „äußerst gefährlich”, sagte der US-Präsident und kündigte weitere Vergeltungsschläge an.
Das US-Militär griff am Sonntag nach eigenen Angaben mit einer Drohne ein Auto des örtlichen IS-Ablegers in Kabul an. Möglicherweise wurde so ein weiterer schwerer Terrorangriff verhindert. Es habe nach dem Luftangriff eine „bedeutende sekundäre Explosion“ gegeben, teilte das US-Zentralkommando mit. Das lasse vermuten, dass das angegriffene Fahrzeug wohl eine große Menge Sprengstoff geladen hatte. Eine „unmittelbare Bedrohung“ für den Flughafen sei beseitigt worden. Hinweise auf zivile Opfer des Angriffs gebe es zunächst nicht.

Der US-Präsident nahm am Luftwaffenstützpunkt in Delaware die Särge der 13 US-Soldaten in Empfang, die bei einem Selbstmordanschlag in Kabul getötet wurden.
Der lokale Fernsehsender ArianaNews berichtete dagegen unter Berufung auf Augenzeugen, dass sechs Menschen, darunter mehrere Kinder, beim Einschlag einer Mörsergranate in einem Kabuler Privathaus im 15. Polizeibezirk getötet worden seien. Fernsehaufnahmen zeigten schwarzen Rauch.Es war nicht unmittelbar klar, ob diese Opfer möglicherweise nicht einer Mörsergranate, sondern dem US-Luftschlag zuzurechnen gewesen seien. Im 15. Polizeibezirk befindet sich auch der Flughafen.
Die Lage war zunächst unübersichtlich, denn parallel stieg die Gefahr weiterer Anschläge von Extremisten: In der Nacht zum Sonntag gab die US-Vertretung in Kabul eine akute Sicherheitswarnung heraus. Alle Amerikaner in der Nähe des Flughafens sollten das Gelände „sofort verlassen“, hieß es darin.
Evakuierungen sollen bald abgeschlossen sein
Der endgültige Rückzug des Westens aus Afghanistan läutet jetzt eine neue Phase der Unsicherheit und Angst in Afghanistan ein. Während Großbritannien seine letzte Maschine mit Zivilisten aus Kabul gestartet hat, konzentrieren sich die USA auf den finalen Abzug ihrer Truppen.
Rund 5000 Armeemitglieder hatten bislang den Flughafen in der Hauptstadt Kabul gesichert und die Evakuierungen durchgeführt. Bis Dienstag sollen auch sie das Land verlassen haben, laut des Pentagon werden bereits Teile der militärischen Ausrüstung Richtung Heimat verladen. Dem TV-Sender CNN zufolge werden lediglich „eine kleine Anzahl US-Diplomaten“ vor Ort bleiben, für einzelne Evakuierungen nach dem 31. August.
Zwar gingen die Evakuierungen am Ende zügig voran, seit Mitte August haben die USA und ihre Partner insgesamt 114.000 Menschen ausgeflogen. Doch mehrere hundert US-Staatsbürger sind weiterhin nicht auffindbar – und manche der verbliebenen Amerikaner wollen bewusst in Afghanistan bleiben, erklärte das Pentagon.
Vielen afghanischen Helfern wiederum gelang es nicht, den gefährlichen Weg Richtung Kabul anzutreten. CNN geht mit Berufung auf Flüchtlingsorganisationen davon aus, dass „Tausende afghanische Übersetzer und andere Helfer zurückgelassen werden könnten.“
Das britische Militär hatte in den vergangenen Wochen fast 14.000 Menschen evakuiert, aber „die traurige Tatsache ist, dass nicht jeder einzelne rauskommt“, hieß es aus London. Deutschland hatte seine letzten Soldaten am Donnerstagabend abgezogen. Der Bundesregierung zufolge wurden rund 4500 Afghanen gerettet. Das sind weit weniger als die 10.000 Personen, die als gefährdet eingestuft wurden.
Nach einem Bericht der „Welt am Sonntag“ sind beim deutschen Evakuierungseinsatz auch nur wenige Ortskräfte ausgeflogen worden. Das Blatt beruft sich auf Zahlen des Bundesinnenministeriums. Demnach befanden sich unter den bis Mitte der Woche Ausgeflogenen nur knapp mehr als 100 Ortskräfte mit ihren Familien. Insgesamt machten sie rund 500 der 4500 Personen aus.

Die Marineinfanteristin Nicole Gee (l.), die hier noch ein auf dem Flughafen Kabul schützend ein afghanisches Baby im Arm hält, ist bei dem Selbstmordanschlag getötet worden.
Die Terrorattacken haben die Verwundbarkeit der USA in Afghanistan entblößt, die nach 20 Jahren Kriegseinsatz die größte Luftbrücke in der Geschichte der Nato koordinierten. Noch immer versuchen Bidens Sicherheitsbeamte die Ereignisse vom Donnerstag zu rekonstruieren.
Bislang weiß man laut US-Medien nur soviel: Der Selbstmordattentäter wartete bis zum letzten Moment, um möglichst viele Opfer mit in den Tod reißen zu können. Am Abbey Gate, einer Hauptschleuse am Kabuler Flughafen, führten US-Soldaten Sicherheitskontrollen durch. Der Bomber sei gezielt auf die Amerikaner zugegangen und zündete beim Abtasten schließlich eine mehr als zehn Kilo schwere Sprengstoffweste.
Die wackelige Anti-Terror-Strategie der USA
Künftige Vergeltungsangriffe der USA könnten laut Experten von Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder von einem U-Boot oder Flugzeugträger im Arabischen Meer aus gestartet werden.
Allerdings hält John R. Allen, Präsident von Brookings und früherer ISAF-Befehlshaber die Pläne für höchst riskant. „Es fehlt eine feste regionale Basis, dazu machen potenzielle Überflugbeschränkungen solche Strategien unglaublich herausfordernd, wenn nicht unmöglich“, schrieb er. „Mit ihrem Abzug aus Afghanistan haben die USA fast ihren gesamten Einfluss als Hauptakteur in Zentralasien verloren“.
Es droht außerdem eine Spirale der Gewalt, die Biden mit seinem Abzug eigentlich stoppen wollte. Die Gefahr durch den afghanischen Zweig des IS wurde bei vielen Anschlägen in diesem Jahr deutlich, unter anderem auf eine Mädchenschule und eine Entbindungsklinik.
Laut Christopher Harnisch, ehemaliger Vize-Koordinator für Terrorismusbekämpfung im US-Außenministerium, sei die Attacke in Kabul nur ein erster Warnschuss des Islamischen Staats in Afghanistan. „Der Angriff war ein riesiger Propaganda-Sieg“, sagte er dem Sender Fox News. „Der eigentliche Zweck bestand darin, potenzielle neue Kämpfer zu locken. Sie wollen einen Bürgerkrieg gegen die Taliban und andere Gruppen in der Peripherie anzetteln“.
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IS-K entstammt einer Splittergruppe pakistanischer Taliban-Kämpfer, die sich 2015 zusammenschlossen. „Nach dem Rückzug des Westens aus Afghanistan wollen sie ein Vakuum füllen und werden letztendlich versuchen, an die Macht zu kommen“, so Harnisch.

Nicht alle Schutzbedürftige können gerettet werden.
Zahlenmäßig ist IS-K den Taliban weit unterlegen. Doch laut den Vereinten Nationen (UN) strömten allein in den vergangenen Monaten Tausende Dschihadisten aus Zentralasien, dem Nordkaukasus, Pakistan und der chinesischen Region Xinjiang nach Afghanistan.
Der Terrorexperte Bruce Hoffman von der Denkfabrik Council on Foreign Relations sagte dem Magazin Politico, dass auch Anschläge in den USA drohten. Verbündete zur Terrorabwehr hat Washington jedenfalls nicht mehr vor Ort. Zwar sind die Taliban und der IS verfeindet, das heißt aber nicht, dass die Taliban plötzlich zum verlässlichen Partner der USA werden: Es gibt unzählige Berichte über Taliban, die im ganzen Land Verbündete des Westens aufspüren und foltern oder töten. Im Zuge der Rückeroberung Afghanistans waren mutmaßlich hunderte IS-Anhänger aus den Gefängnissen befreit worden.
Neue Debatte um Flüchtlinge – in den USA und in Europa
Die Terrorattacken lassen an Bidens Strategie zweifeln, die Taliban strategisch in die Evakuierungen mit einzubeziehen – und sie womöglich offiziell anzuerkennen, sobald die Taliban eine Regierung formen.
So waren die Taliban für die Sicherung des Kabuler Flughafens mitverantwortlich, trotzdem konnte der Selbstmordattentäter ungehindert durch mehrere Kontrollpunkte laufen. „Eines ist klar: Wir können den Taliban die Sicherheit der Amerikaner nicht anvertrauen“, warnte der demokratische Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im US-Senat, Bob Menendez.
USA rechnen nach Angriff auf IS-Ableger mit neuen Attentaten
Biden betonte am Donnerstag, dass „wohl niemand den Taliban vertraut“. Doch in der Realität halten die USA die Kommunikationskanäle offen. Biden bleibt dabei, es sei „richtig gewesen“, mit den Taliban im Sinne der Evakuierungen zu kooperieren. „Es ist in ihrem eigenen Interesse, dass wir das Land verlassen und dass wir so viele unserer Leute wie möglich rausholen“.
In den USA ist, ebenso wie in Europa, eine Debatte um die Verteilung der afghanischen Flüchtlinge entbrannt. Der linke Flügel der Demokraten im Repräsentantenhaus, angeführt von der Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez, forderte von Biden, die Obergrenze für Flüchtlinge – derzeit sind es rund 60.000 pro Jahr – mehr als zu verdreifachen. Ex-Präsident Donald Trump schürte Ängste vor einer neuen Flüchtlingskrise und warnte, Biden hole „Hunderte neue Terroristen“ ins Land.
Auch die Europäische Union signalisiert Abschottung. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte, Europa müsse sich „schützen“. Griechenland hat einen Grenzzaun zur Türkei errichtet, um afghanische Migranten abzuschrecken. Die Türkei, die Millionen syrischer Flüchtlinge beherbergt, hat ihre Grenzen mit Mauern, Gräben und Stacheldraht aufgerüstet. Und das am Afghanistan-Einsatz beteiligte Australien hat eine Kampagne gestartet, in der Afghanen aufgefordert werden, die gefährliche Seereise gar nicht erst anzutreten.
Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass viele Afghanen voraussichtlich in Nachbarländer fliehen werden. Nach UN-Angaben lebten Ende 2020 allein in Pakistan bereits 1,4 Millionen afghanische Flüchtlinge.
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