Weltgeschichte Haben Brasiliens Abiturienten zwei Jahre umsonst gebüffelt?

Für die Auswahltests für die Universitäten müssen Abiturienten in Brasilien jahrelang lernen.
Salvador Es ist jetzt Hochsommer in Brasilien. Eigentlich die entspannte Jahreszeit, mit viel Feiern, Strand, Sonne – und in zehn Tagen geht auch noch der Karneval los. Eigentlich. Doch für viele Familien mit Kindern, die nun nach dem Ende der Schulzeit auf einen Studienplatz hoffen, waren die letzten Wochen Stress pur.
Heulende Jugendliche, verzweifelte Eltern und eine über allem thronende Bildungs-Maschinerie, die einen das Fürchten lernen kann: Weil bei ihr Planungsmängel, ideologische Borniertheit und staatliche Allmacht zusammenkommen – die dabei mal eben über die akademische Zukunft der brasilianischen Jugend entscheidet.
Die Stressphase für Brasiliens Jugendliche, die studieren wollen, beginnt in der Oberstufe, drei Jahre vor der Abi Prüfung. Dabei wird die Schraube immer weiter angezogen. Es geht vor allem darum, Unmengen auswendig zu lernen. Gleichzeitig üben die Schüler Essays zu schreiben, in denen sie sich argumentativ mit gesellschaftlichen Themen auseinandersetzen.
An den privaten Schulen beginnt der Ganztags-Unterricht für die Oberstufe teilweise schon ab 6 Uhr morgens. Jeden Samstag finden Testprüfungen über jeweils vier Stunden statt. Im letzten Jahr müssen die Schüler manchmal auch sonntags erscheinen. Es geht darum, die Logik und den Stress der landesweiten Abiturprüfung, genannt ENEM, möglichst realistisch zu simulieren.
Viele Schüler büffeln nebenbei noch in teuren Vorbereitungskursen für die große Prüfung. Das gilt nicht nur für privilegierte Jugendliche aus der Mittelschicht und ihre privaten Schulen. Auch an den öffentlichen Schulen versuchen viele Schüler ihre Chancen mit privaten Vorbereitungskursen zu erhöhen.
Die ENEM-Prüfung findet jeweils im November an zwei Sonntagen hintereinander statt. Fünf Millionen Schüler haben sich bei der letzten Runde eingeschrieben. Knapp vier Millionen Kandidaten sind erschienen.
Auswahltest für die Unis
Bei der ENEM-Prüfung ging es bei der Einführung vor 20 Jahren vor allem darum, eine einheitliche, landesweite Messlatte zu finden, nach der sich Schüler dann auf die relativ wenigen, begehrten Studienplätze an den föderalen Universitäten bewerben können. Die verlangen keine Studiengebühren und sind akademisch meist auf höherem Niveau.
Auch private Universitäten nehmen das Ergebnis des ENEM teilweise als Zugangskriterium. Die Noten der Oberstufe zählen nicht. Einzig die Vorbereitung und Tagesform an zwei Prüfungstagen entscheiden über die künftige akademische Karriere. Von der Punktezahl bis maximal 1000 hängt es also ab, ob man einen Studienplatz bekommt oder nicht.
Rund zwei Monate haben die Schüler nun gewartet, bis jetzt die Ergebnisse veröffentlicht wurden. Oder veröffentlicht werden sollten. Denn Mitte Januar kam heraus, dass viele Noten falsch berechnet worden sind. Erst kursierten Zahlen von 50.000 falschen Noten. Dann gab der Minister nach anfänglichem Leugnen zu, dass die Unterlagen von knapp 5000 Kandidaten falsch ausgewertet wurden.
„Ein Schreck“ sei das, nichts weiter. Aber die falschen Noten würden bald korrigiert und dann alles seinen üblichen Lauf nehmen. Der rechtspopulistische Präsident Jair Bolsonaro vermutete sofort Sabotage der Linken dahinter. Dann wollte er von dem Ganzen nichts mehr hören und weigerte sich, Fragen der Journalisten darauf zu beantworten.
Doch das Durcheinander hielt an: 170.000 Schüler hinterfragten per Mail an die Behörde ihre Noten. Sie misstrauten dem Ergebnis. Sie bekamen bis heute größtenteils keine Antwort. Das war auch in den Vorjahren bereits so: Die Behörde antwortet auf Anfragen lieber gar nicht, um sich juristisch nicht aufs Glatteis zu bewegen.
Das Chaos wurde noch größer, als vor zehn Tagen die viertägige Einschreibungsfrist an den Unis begonnen hat. Das ist ein hochkomplexer Prozess.
Auswahlverfahren ging schief
Dabei bewirbt sich jeder potenzielle Student mit seiner ENEM-Note per Internet für zwei seiner gewünschten Studiengänge. Danach wird dann je nach Zahl der Bewerber und ihren Noten automatisch die Mindestpunktzahl berechnet.
Täglich veröffentlicht die Behörde dann nach Mitternacht die Mindestnote, welche nötig ist für das jeweiligen Studienfach. Liegt man mit seinem Numerus Clausus weit darunter, kann man zu einem anderen Kurs switchen, wo man mehr Chancen hat.
Das Ganze ist ein anspruchsvolles Strategiespiel, wobei die Jugendlichen – meist mit ihren Eltern - sich die Nächte am PC um die Ohren schlagen, um auszuloten, ob irgendwo an einer Uni in der Provinz des Amazonaslandes doch noch Chancen auf einen Studienplatz bestehen, weil gerade Bewerber abgesprungen sind.
Doch dieses Jahr ging auch das Auswahlverfahren schief. Das neue Einschreibsystem brach am ersten Tag zusammen angesichts des Ansturms. Der Minister erklärte das mit den „überraschend vielen“ Bewerbern.
Das ist Unsinn: Die Kandidatenzahl stand seit einem Jahr fest, als sich die Schüler für das landesweite ENEM eingeschrieben haben. Dann verlängerte der Minister die Frist für die Einschreibung. Ein Gericht untersagte wiederum die Veröffentlichung. Inzwischen sollen von den rund 1,8 Millionen Bewerbern aber angeblich 240.000 einen Studienplatz bekommen haben.
Die rund 1,5 Millionen jungen Menschen, die leer ausgingen? Für die beginnt in einem Jahr alles wieder von vorn – es sei denn sie werden von einer der teuren Privatunis doch noch akzeptiert.
Das Problem: Die ENEM-Note, also der Numeros Clausus gilt nur für dieses Jahr. Ende 2020 müssen alle erneut an der Prüfung teilnehmen und hoffen, dass sie es dann schaffen. Bis dahin werden sie Cursinhos, also private Vorbereitungskurse besuchen.
Um die abgelehnten Bewerber fit zu machen, ist eine umfangreiche Dienstleistungsindustrie gewachsen. Die Anbieter werben damit, wie viele Schüler sie regelmäßig durch das Nadelöhr des ENEM bekommen. Für die Familien ist das kostspielig und nervtötend.
Doch dieses Jahr kommt bei den Schülern noch der Zweifel dazu: Ob sie doch besser abgeschnitten haben und es nur wegen einer Fehlbeurteilung nicht an die Uni geschafft haben? Und wer garantiert, dass es nächstes Jahr besser organisiert wird?
Diese Zweifel nagen an der Motivation und erhöhen den Frust.
Mehr: Ist Paraguay ein Schmuggelparadies
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.