Niall Ferguson in Davos „Merkel hat einen tragischen Fehler gemacht“

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in der Flüchtlingskrise ihre taktische Vorsicht aufgegeben, meint der Harvard-Historiker Niall Ferguson.
Davos Niall Ferguson ist bereits am ersten Tag des Weltwirtschaftsforums erschöpft. „Ich sollte nicht so viele Interviews geben“, schmunzelt der britische Historiker, der an der US-Eliteuniversität Harvard lehrt. Doch beim Stichwort „Merkel“ ist der leidenschaftliche Chronist der aktuellen Zeitenwende hellwach.
Herr Ferguson, Sie haben in Hamburg und Berlin studiert, kennen Deutschland also gut. Wie erklären Sie sich die Reaktion von Bundeskanzlerin Merkel auf die Flüchtlingskrise?
Für mich sieht die Öffnung der Grenzen aus wie ein tragischer Fehler. Ich kann zwar erkennen, warum Merkel so gehandelt hat: Europa hat schon lange seine Grenzen nicht mehr geschützt und es war unklar, wie der Flüchtlingsstrom hätte gestoppt werden können. Zunächst sah es ja auch ganz gut aus: Merkel wurde vom US-Magazin „Time“ und von der „Financial Times“ zur Person des Jahres gewählt.
Waren Sie überrascht von Merkels Entscheidung?
Ja. Ich habe immer noch keine Erklärung dafür, warum sie ein derart hohes politisches Risiko eingegangen ist. Sie hat plötzlich ihre taktische Vorsicht aufgegeben. Es ist doch offensichtlich, dass sie die Gefahren ihrer Politik unterschätzt hat. Sind ihre Tage deshalb gezählt? Ich kann es mir nicht vorstellen.

„Ich glaube nicht, dass Multikulti in den meisten europäischen Ländern funktioniert.“
Sie haben kürzlich die Lage in Europa heute mit dem Untergang des Römischen Reiches verglichen. Wie meinen Sie das?
Das war nach den Terroranschlägen von Paris im November. Vor mehr als 1500 Jahren hat die massenhafte Migration von Ausländern nach Rom wesentlich zu dessen Untergang beigetragen. Ich sehe eine wirkliche Gefahr, dass die Europäische Union in den kommenden Jahren auseinanderfällt. Erst die Währungsunion und jetzt das Schengen-Abkommen zur Freizügigkeit haben sich als Desaster erwiesen. Die Terrorgefahr bietet eine weitere Parallele: Der Feind ist im Inneren Europas und willens barbarische Anschläge zu verüben.
Europa kann es also nicht „schaffen“, wie Merkel glaubt?
Ich glaube nicht, dass Multikulti in den meisten europäischen Ländern funktioniert. Und auch Deutschland sieht das nach den Ereignissen in Köln wohl ein. Wir wissen aus der Geschichte, dass Nationen und ihre Reiche oft sehr schnell zusammenbrechen können. Europa riskiert im Moment seine eigene Auflösung.
Die Briten drohen jetzt auch noch mit dem Brexit. Sie dürfen beim Referendum abstimmen, haben Sie sich schon entschieden?
Ich werde für den Verbleib Großbritanniens in der EU stimmen. Die wirtschaftlichen Risiken eines Austritts sind einfach zu groß. Außerdem würde London nach einem Austritt an Einfluss verlieren, müsste sich aber doch an die meisten Regeln der EU halten.
Auch Amerika steht mit den Präsidentschaftswahlen vor großen Veränderungen. Wie erklären Sie das Phänomen Donald Trump?
Populismus ist die typische Reaktion auf eine wirtschaftliche Krise. Seit der Finanzkrise haben wir das in verschiedenen Formen diesseits und jenseits des Atlantiks gesehen. In den USA ist der Populismus meist mehr auf der rechten Seite des politischen Spektrums verankert. Desillusionierte Konservative in den USA suchen schon seit dem Entstehen der „Tea Party“ nach einem politischen Führer. Trump füllt diese Rolle bislang sehr gut aus. Ich glaube dennoch nicht, dass er der Präsidentschaftskandidat der Republikaner wird.
Warum nicht?
Weil er bei den jetzt beginnenden Vorwahlen nicht dauerhaft gute Ergebnisse einfahren kann. Er ist zum Beispiel sehr schwach im Westen der USA. Außerdem sind seine größten Anhänger Leute, die normalerweise nicht zur Wahl gehen.
Wie beurteilen Sie die Präsidentschaft Obamas, der jetzt fast am Ende seiner Amtszeit ist?
Es war eine desaströse Präsidentschaft. Seine Strategie im Mittleren Osten ist in der Geschichte der amerikanischen Außenpolitik ein Tiefpunkt. Seine Politik hat dazu geführt, dass drei Staaten zusammengebrochen und im religiösen Bürgerkrieg versunken sind. Sie als Deutscher müssen jetzt die Folgen dieser Politik mit der Flüchtlingskrise ausbaden.
Die Stimmung vieler Teilnehmer des Weltwirtschaftsforums hier in Davos ist ziemlich trüb. Jetzt sind auch noch die Aktienmärkte weltweit eingebrochen. Gehören Sie auch zu den Pessimisten?
Ich habe einen vierjährigen Sohn, der gerade mit Lego-Bausteinen spielt. Er baut erst eine Mauer, dann eine zweite, wobei die erste dabei wieder kaputtgeht. Und so geht das über eine lange Zeit. Das Haus, das er bauen möchte, wird nicht richtig fertig. Das ist eine treffende Analogie für die Weltwirtschaftspolitik, sie ist ein ewiges Flickwerk. Sei es bei der Bankenrettung in Amerika oder beim Schuldenabbau in Europa. Seit der Finanzkrise habe ich aufgehört, mit Optimismus auf die Weltwirtschaft zu blicken.