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Zum Davos 2017 Special von Handelsblatt Online

Zerfall westlicher Gesellschaften Vordenker ohne Follower

Die beim am Dienstag beginnenden World Economic Forum in Davos versammelten Manager, Politiker und Wissenschaftler sind den Wutbürgern davongeeilt. Die westlichen Gesellschaften brauchen neuen Klebstoff, wenn der Riss nicht noch größer werden soll. Ein Essay.
16.01.2017 - 10:12 Uhr Kommentieren
Eine Journalistin hält bei der Pressekonferenz des russischen Präsidenten Wladimir Putin im Dezember ein Plakat in die Höhe. Es zeigt ihn (l.) mit der französischen FN-Führerin Marine Le Pen und US-Präsident Donald Trump. Quelle: imago/ITAR-TASS
Neue Verbündete?

Eine Journalistin hält bei der Pressekonferenz des russischen Präsidenten Wladimir Putin im Dezember ein Plakat in die Höhe. Es zeigt ihn (l.) mit der französischen FN-Führerin Marine Le Pen und US-Präsident Donald Trump.

(Foto: imago/ITAR-TASS)

Berlin Das World Economic Forum (WEF) hat sich immer auch als Schaufenster in die Zukunft verstanden. Wenn diese Woche über 3.000 zukunftsgläubige „Mover and Shaker“ aus aller Welt nach Davos pilgern, geht es vor allem um neue Technologien, Geschäftsmodelle und Politikentwürfe. Vor drei Jahren unternahm die Historikerin Margaret MacMillan jedoch eine Zeitreise zurück in die Zukunft und versetzte das WEF in die Welt vom Januar 1914. Die erste Phase der Globalisierung neigte sich damals gerade ihrem Ende zu, der aufkommende Nationalismus vergiftete die internationalen Beziehungen. Oswald Spengler arbeitete an seinem düsteren Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“ und setzte damit den Ton für die ganze Epoche.

Auf der Promenade von Davos hätten 1914, so stellte es sich die in Oxford lehrende MacMillan vor, Industriebarone und Banker wie Hugo Stinnes und John Pierpont Morgan, Erfinder wie Thomas Edison und Graf Zeppelin sowie Literaten wie Thomas Mann und H. G. Wells flaniert. Ein neuer amerikanischer Präsident, Woodrow Wilson, war kurz vorher ins Weiße Haus eingezogen, hätte womöglich die anderen „Davos-Pilger“ vor der damals ebenfalls wachsenden Ungleichheit gewarnt, die insbesondere die Mittelklasse zermürbte. „Wie heute“, so schrieb MacMillan, „hätte die Elite von 1914 darüber gerätselt, wie sie den rapiden Wandel einer aufgewühlten Welt meistern könnte.“

Was die Historikerin bereits vor drei Jahren durch ihren Blick in den Rückspiegel der Geschichte vorausahnte, wird diese Woche in Davos die Gespräche bestimmen. Wenn Spitzenpolitiker wie der chinesische Präsident Xi Jinping, Wall-Street-Größen wie Jamie Dimon, Innovatoren wie Eric Schmidt von der Google-Mutter Alphabet und Nobelpreisträger wie Joe Stiglitz zum globalen Brainstorming in dem 1.500 Meter hoch gelegenen Bergort zusammenkommen, werden sie sich fragen: Wie können wir Frieden und Wohlstand in einer Welt bewahren, deren alte Ordnung sich gerade vor unseren Augen auflöst?

Dossier Davos 2017 – Inhalt u.a.:

  • Essay über den Zerfall der liberalen Ordnung und das bittere Versagen des Establishments.
  • WEF-Initiator Klaus Schwab warnt im Interview vor sozialer Spaltung – und beklagt gefährlichen Ideenmangel.
  • McKinsey-Deutschlandchef Cornelius Baur schreibt in einem Gastbeitrag über seine Erwartungen an das Forum.
  • Wegweiser durch vier Tage Davos: Top-Foren und Geheimtipps abseits der großen Bühne.
  • Jetzt lesen: Den Digitalpass vier Wochen gratis testen und das komplette Davos-Dossier kostenlos als PDF downloaden (Umfang: 16 Seiten im PDF-Format) – oder die gedruckte Ausgabe mit der Dienstagausgabe des Handelsblatts vom 17.1.2017 am Kiosk erwerben.

    Viel Zeit für eine Antwort bleibt nicht. Im Frühjahr könnte ein Sieg des rechtsradikalen Front National bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich Europa in eine neue Zerreißprobe stürzen. Im Herbst steht mit Angela Merkel die offenbar letzte Protagonistin der offenen Gesellschaft auf dem Prüfstand der murrenden Wähler. „Die Demokratie befindet sich in einer tiefen Krise“, diagnostiziert der langjährige Davos-Fahrer und Investor George Soros. Der Europäischen Union drohe das Schicksal der Sowjetunion. „Das Ende des Westens ist so gut wie sicher“, warnt der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer. Mit dem politischen Multilateralismus stößt auch die wirtschaftliche Globalisierung an ihre Grenzen. „Trump hat gewonnen, die Globalisierung hat verloren“, titelte die Zeitung „The Boston Globe“ am Tag nach der US-Wahl.

    Wer ist schuld an dem Weltbeben? „Die Eliten sowohl in Europa wie in Amerika haben in den vergangenen beiden Jahrzehnten schlichtweg versagt“, konstatiert Francis Fukuyama. Der amerikanische Politikwissenschaftler hatte nach dem Fall der Mauer 1989 noch das „Ende der Geschichte“ und den Sieg der liberalen Weltordnung prophezeit. Es kam ganz anders. Dass in Davos jetzt die schuldigen Banker, Manager und Politiker versuchen müssen, den Weltkarren wieder aus dem Dreck zu ziehen, ist nur folgerichtig. Wie ihre Vorgänger 1914 sind sie nicht nur blindlings in die Katastrophen von Wirtschaftskrisen und Kriegen gestolpert, sondern sehen sich jetzt auch noch einem Aufstand von Wutbürgern gegen ihr Establishment gegenüber.

    Die Ordnung droht zu zerfallen

    Seit der Finanzkrise rebellieren die Menschen gegen ein Wirtschaftssystem, das die Kleinen hängt und die Großen laufen lässt. Das ist die erste Phase des Aufstands. Seit ein paar Jahren nun gehen immer mehr Bürger auch gegen eine offene Gesellschaft auf die Barrikaden, in der sie wegen des Freihandels um ihre Jobs und angesichts der modernen Völkerwanderung um ihre Identität fürchten. Das ist Phase zwei. Ihr hilfesuchender Blick ging dabei lange Zeit nach oben zu den „Auserwählten“ – denn das ist der lateinische Ursprung des Wortes „Elite“. Als die Hilfe ausblieb, kochte die Wut über: Der Brexit und die Trump-Wahl sind die Absage an eine offene, liberale Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, von der sich immer mehr Normalbürger fragen: „Was hab’ ich davon?“ Das ist die dritte und gefährlichste Phase der Rebellion: Die offene Gesellschaft und die sie tragenden Eliten verlieren ihre „Follower“.

    Stammgast im Bergdorf. Quelle: NBCUniversal/Getty Images
    JP-Morgan-Chef Jamie Dimon

    Stammgast im Bergdorf.

    (Foto: NBCUniversal/Getty Images)
    Der frühere Vizekanzler sieht das „Ende des Westens“ kommen. Quelle: dpa
    Joschka Fischer

    Der frühere Vizekanzler sieht das „Ende des Westens“ kommen.

    (Foto: dpa)
    Von der Trump-Regierung erwartet er „Voodoo Economics“. Quelle: laif
    Ökonom Joseph Stiglitz

    Von der Trump-Regierung erwartet er „Voodoo Economics“.

    (Foto: laif)

    Der Aufstand gegen das Establishment kann auch Klaus Schwab nicht kaltlassen. Der 78-jährige Deutsche hat sich stets als Vermittler zwischen den globalen Eliten und dem Rest der Welt verstanden, seit er das WEF vor fast 46 Jahren gegründet hat. „Wir wollen Klebstoff der Weltgemeinschaft sein“, beschreibt Schwab die Aufgabe seines Forums. Dieser Kitt bröckelt jedoch, und die Welt gerät nahezu überall aus den Fugen. Das ist auch eine Niederlage für Schwab und das WEF. Mehr noch: Davos gilt seit jeher als Inbegriff des Elitären und damit als Teil des Establishments, gegen das jetzt so viele Bürger auf die Barrikaden gehen. Samuel Huntington, der in seinem Klassiker „Kampf der Kulturen“ viele der heutigen Konflikte vorwegnahm, gab den alljährlich in die Schweizer Berge pilgernden Eliten den berüchtigten Titel „Davos Man“. Und Steve Bannon, rechtskonservativer Berater des neuen US-Präsidenten Donald Trump, lästerte kürzlich: „Die arbeitenden Männer und Frauen in der Welt haben die Nase voll, dass ihnen die Davos-Partei Vorschriften macht.“

    Dabei hat gerade das WEF in mühevoller Kleinarbeit versucht, den Dialog zwischen der Elite und den Normalbürgern zu fördern. Das „Open Forum“ in Davos, eine für jedermann zugängliche Veranstaltung, ist nur ein Beispiel dafür. „Wir wollen keine arrogante Identität haben, sondern dienen“, sagte Schwab im vergangenen Jahr der Bertelsmann Stiftung. Eine noble Haltung, die längst jedoch nicht von allen der 3.000 „Auserwählten“ in Davos geteilt wird.

    Die Welt politisch, wirtschaftlich und sozial zusammenzuhalten, dürfte deshalb die Herkulesaufgabe der nächsten Jahre werden. Wie schwierig das sein wird, zeigt sich symbolisch bereits in dieser Woche: Während Donald Trump allein zu Haus in Washington als neuer US-Präsident mit seiner isolationistischen Agenda des „America first“ vereidigt wird, reicht sein chinesischer Amtskollege und Rivale Xi Jinping auf der globalen Bühne in Davos der Welt die Hand. Welche Folgen ein solch tektonischer Rollenwechsel für unsere Welt haben könnte, die seit Jahrhunderten von den westlichen Ideen einer liberalen Ordnung geprägt wurde, lässt sich nur erahnen. Sicher ist, dass eine Welt, in der nicht mehr gemeinsam akzeptierte Werte, sondern rivalisierende Mächte die Spielregeln bestimmen, für viele kaum wiederzuerkennen sein wird.

    Demonstration in New York im November 2016. Quelle: AFP
    Aufschrei der Unterlegenen der US-Wahl

    Demonstration in New York im November 2016.

    (Foto: AFP)

    Angela Merkel wird von angelsächsischen Medien jetzt als letzte Bannerträgerin einer liberalen Weltordnung gepriesen. Die Kanzlerin kommt auch in diesem Jahr nicht nach Davos. Sie wird ohnehin den Autokraten und Populisten von Washington über Moskau bis Peking allein nicht Paroli bieten können. Dafür braucht sie die Unterstützung gerade jener Eliten, die sich diese Woche in Davos versammeln. Viel zu lange haben die „Davos Men and Women“ die liberale Ordnung, von der sie politisch und wirtschaftlich profitieren, stillschweigend als Selbstverständlichkeit betrachtet. Mit autoritären Regimen wie in Moskau und Peking hat man sich notfalls „arrangiert“, wenn es dem Geschäft nützt. Immer in der naiven Gewissheit, dass das eigene Leben zu Hause freiheitlicher, gerechter, friedlicher – eben besser – ist. Diese Gewissheit gibt es seit der Zeitenwende 2016 nicht mehr. Der Angriff von Populisten à la Trump und Autokraten à la Putin auf das liberale Fundament unserer Gesellschaft ist nicht abstrakt, sondern trifft jeden persönlich.

    Angriff auf das Fundament

    Diese persönliche Betroffenheit spürt man allerdings nicht oder nicht früh genug auf den Chefetagen, in den Regierungspalästen und wohl auch nicht auf der Promenade von Davos. Dazu muss man von den Elite-Gipfeln in die Niederungen der Lebenswelten seiner wütenden Mitbürger hinabsteigen. Zu den entlassenen Autobauern in Detroit etwa oder in die fast ausgestorbenen Stahlorte nahe Pittsburgh. In die Integrationsschulklassen von Berlin-Neukölln oder in die nordrhein-westfälische Gemeinde Orsoy, die mit ihren 4 000 Einwohnern zwischenzeitlich 500 Flüchtlinge unterbringen musste. In „vergessene“ Industriestädte wie Sunderland im englischen Nordosten oder in die futuristischen, aber meist menschenleeren Datenzentren von Apple & Co., die sich zum Beispiel an der ehemaligen „Furniture Road“ im US-Bundesstaat North Carolina wie Tempel der digitalen Wirtschaft reihen.

    „Wenn reiche und mächtige Menschen wie in Davos zusammenkommen, vergessen sie allzu oft, was dort unten in den Tälern vor sich geht. Auch 1914 gab es eine Menge sehr cleverer Leute, die dachten, alles im Griff zu haben. Ich habe nicht das Gefühl, dass wir heute mit unseren Eliten besser dran sind“, warnt die Historikerin MacMillan. Manager, Politiker, Wissenschaftler, ja, und auch die Journalisten, haben diese Woche die Chance, das Gegenteil zu beweisen.

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