Weltgeschichte Von der Plage zum Wirtschaftsfaktor: Die Geschichte der Hunde in Istanbul

Hunde gehören zum Istanbuler Stadtbild dazu.
Istanbul Wer nach Istanbul reist und in der Innenstadt angekommen ist, mag denken: Diese Stadt hat ein Hundeproblem. Überall laufen die Vierbeiner herum oder liegen am Straßenrand in den Gassen, bevölkern Parks und Parkplätze.
Die Hunde spielten in der Geschichte der Stadt allerdings eine wichtige Rolle. Nicht zuletzt für die Wirtschaft. Wer eine Lederjacke „Made in Turkey“ besitzt, der darf sich sicher sein, ein hochwertiges Produkt zu tragen – und muss beim Lesen dieser Weltgeschichte nun ein wenig tapfer sein.
Groben Schätzungen zufolge leben bis zu 200.000 Hunde in der Stadt. Das entspricht fast der Einwohnerzahl Freiburgs. Sie bevölkern die Wälder am Stadtrand, noch häufiger aber sind sie in den innerstädtischen Stadtvierteln vorzufinden. Die meisten stammen von der Rasse des anatolischen Hirtenhundes ab, der seit 2018 Kangal-Hirtenhund genannt wird, und kann bis zu 80 Kilo schwer werden. Wenn man in einer kleinen Gasse in den Innenstadtvierteln Beyoglu, Fatih oder Kasimpasa von so einem Hund angebellt wird, dann wird einem schon mal anders.
Mit der Geschichte von Istanbuls Hunden beschäftigen sich sogar Wissenschaftler. Historiker glauben, die Tiere seien mit dem osmanischen Feldherrn und Eroberer Anatoliens, Mehmed dem Zweiten, im 15. Jahrhundert in die Stadt gekommen. Für bis zu drei Jahrhunderte hielten die Menschen der Stadt Hunde als Haustiere und Wachhunde. Selbst die lokalen Sicherheitskräfte haben Aufzeichnungen zufolge Hunde eingesetzt, um ganze Viertel zu bewachen.
Insel des Unheils
Als die Modernisierung in Europa begann, galten Hunde plötzlich als nicht westlich und eher als Zeichen der Armut. Sie wurden nicht mehr gebraucht und nicht mehr gefüttert, häufig sogar misshandelt. Als Mark Twain 1897 Konstantinopel, so hieß Istanbul damals, besuchte, vermerkte er in seinem Tagebuch, er habe noch nie „derart traurige Tiere“ gesehen.
1911, im ausgehenden Osmanischen Reich, ordnete Sultan Mehmet der Fünfte an, alle Hunde der Stadt auf die nahegelegene Insel Sivriada im Marmarameer zu bringen, wo sie verhungern sollten. Angeblich sei dies ein Versuch gewesen, die Stadt westlicher zu machen. Schon bei der Schiffsüberfahrt seien hunderte verendet.
Berichten zufolge hätten die Tiere auf der rund 10 Kilometer vom Festland entfernten Insel nachts derart laut gebellt, dass die Bewohner der Stadt nicht schlafen konnten. Schlussendlich starben alle 80.000 Tiere. Meist durch Hunger oder Ertrinken, und ein Erdbeben wenige Tage nach der Deportation tötete den Rest.
Die Bewohner sahen das Beben als Strafe Gottes für die Menschen an, die die Hunde verbannt hatten. Seitdem heißt die Insel im Volksmund „Hayirsizada“ – Insel des Unheils. Und die Hunde waren plötzlich nicht mehr die Schuldigen, sondern Opfer. Die wenigen in der Stadt verbliebenen Vierbeiner wurden wieder aufgenommen – und entwickelten sich schon bald zum elementaren Glied in der Produktionskette einer damals aufstrebenden Industrie.
Istanbul gilt seit den 1950er Jahren als Zentrum der verarbeitenden Textilindustrie des Landes, dazu zählt vor allem auch die Verarbeitung von Leder. Und um die frisch gegerbten Stoffen widerstandsfähiger zu machen, wurden sie früher eingerieben – und zwar mit Hundekot. Bestimmte Enzyme darin verhinderten, dass sich das Leder zu schnell abnutzte. Mit der speziellen Behandlung blieb es weich und widerstandsfähig.
„Bringst du etwa Hundemist zur Gerberei?“
Mitarbeiter der Gerbereien fütterten seitdem die Straßenhunde, damit sie sich in der Nähe der Fabrik aufhielten. Je frischer, desto besser. Es gab daher sogar ganze Hundefarmen und Lieferketten, um den Bio-Dünger möglichst schnell anzuliefern. Noch heute nutzen Istanbuler ein bestimmtes Sprichwort für Menschen, die es besonders eilig haben: „Bringst du etwa Hundemist zur Gerberei?“
Die Industrie nutzt inzwischen synthetische Stoffe, die Hunde sind trotzdem geblieben. Und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich das bald ändert.
Und so sind die Tiere zu einem Teil der Stadt geworden. Zwischen 2004 und 2018 sind in der ganzen Türkei 1,2 Millionen Hunde kastriert und 1,5 Millionen geimpft worden. Entweder auf Kosten der Stadtverwaltung, oder durch Spenden. Klar ist: Die Tiere bleiben. In einem Land, das gesellschaftlich seit Jahrzehnten gespalten ist, sind die Hunde eine der wenigen sozialen Konstanten im Land geworden. Fast jeder mag sie.
Als die Stadtverwaltung 2014 hunderte Hunde in der Stadt einfangen und in den umliegenden Wäldern aussetzen wollte, gab es Dutzende Proteste. Letztlich gewann die Zivilbevölkerung – und die Hunde. Vor allem in den besseren Vierteln wie Yeniköy oder Nisantasi sieht man an fast jeder Straßenecke Hundehütten. Metzger verteilen Tierknochen an die Streuner, bei einem Unwetter lassen manche Ladenbesitzer die Vierbeiner ins Geschäft.
Ahmet Senpolat, der die Türkische Gesellschaft für Tierrechte (Haytap) leitet, nennt die städtischen Vierbeiner „soziale Tiere“, nicht zuletzt, weil sie sich inzwischen so an das Leben auf dem Asphalt und zwischen den Hochhäusern angepasst hätten.
Zu einer gewissen Berühmtheit hat es ein Hund im Stadtteil Besiktas gebracht. Er hält sich meist in der Nähe einer großen Verkehrskreuzung auf. Wenn er die Straße überqueren will, wartet der Hund, bis die Ampel grün leuchtet. Bis dahin wartet er geduldig – anders als ein Großteil der Menschen, die die Straße überqueren. Sie haben es offenbar eilig – oder müssen etwas ganz Wichtiges zur Gerberei transportieren.
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