Digitale Transformation Vorbilder Italien und Türkei: Was Deutschland von den digitalen Aufsteigern lernen kann

Die 2016 gegründete Apple Developer Academy in Neapel hat dazu beigetragen, Tausende von europäischen Studentinnen auf Jobs in der florierenden iOS App-Economy vorzubereiten.
Istanbul, Lucca, Neapel Das Produkt, das die Maschine nach gut 60 Metern ausspuckt, könnte analoger kaum sein: Toilettenpapier. Aus tonnenschwerem Rohmaterial schneidet und klebt der weiße Koloss mehrlagige Rollen, 1620 Stück pro Minute. Das Geschäft im Norden der Toskana ist alt, klassischer Maschinenbau. Doch seit Kurzem ist es hochdigitalisiert: Künstliche Intelligenz, das Internet der Dinge – in Italiens Klorollen-Produktion sind sie schon Realität.
60 Jahre sind vergangen, seit der Italiener Fabio Perini hier in der Stadt Lucca die erste Schneidemaschine für Hygienepapier entwickelte. Perinis Firma, die seit 1993 zur deutschen Körber-Gruppe gehört, ist Marktführer. Jede vierte Klopapierrolle auf der Welt wird auf Maschinen von Körber Tissue produziert. Von den 1200 Beschäftigten arbeiten mehr als die Hälfte in Italien.
Und diese erleben neue Zeiten der Digitalisierung: „Wir haben uns die gesamte Wertschöpfungskette angeschaut“, sagt Daniel Szabo, der bei Körber die Digitaleinheit leitet. Durch Künstliche Intelligenz lasse sich die Produktivität um bis zu 30 Prozent erhöhen.
Die Produktionsmaschine analysiert sich selbst, wertet in Echtzeit 400 Parameter aus – und macht daraus Vorschläge, welche Stellschrauben verändert werden müssen, um die Performance zu verbessern. Selbst ungelerntes Personal kann die Anlage bedienen. „Das ist wichtig, weil demnächst sehr viel Expertise auf dem Gebiet in Rente geht“, sagt Szabo. Die Maschine lernt jeden Tag dazu, auch von allen anderen Geräten, die weltweit laufen.
Wie global vernetzt das Klorollen-Geschäft ist, zeigt ein Blick ins „Tissue Performance Center“: Rund um die Uhr sitzen Beschäftigte vor einer Wand mit großen Bildschirmen. Infos von mehr als 160 Maschinen laufen ein. Geschwindigkeit, Ausfallzeiten, Motorentemperatur: Alles wird aus der Ferne überwacht.
Statt wie früher bei Problemen auf den Kundenanruf zu warten, verschicken die Mitarbeiter von hier frühzeitige Warnungen an die Betreiber. Seit zwei Jahren gibt es den Service. „Davor war es ein Tabu, die Daten der Maschine mit jemandem übers Internet zu teilen“, sagt Oswaldo Cruz Junior, CEO von Körber Tissue. Heute ließen sich damit teure Ausfälle vermeiden.
Italien und die Türkei haben digital am meisten aufgeholt
Nicht nur in Lucca ist die Transformation in vollem Gange. In ganz Italien werden gerade in hohem Tempo Wirtschaftszweige digitalisiert. Im diesjährigen „Digital Riser Report“ des European Center for Digital Competitiveness hat Italien einen riesigen Schritt nach vorn gemacht, sich unter den G20-Staaten um neun Plätze verbessert. Damit liegt Italien vor Deutschland, Frankreich und den USA.
Der andere große Aufsteiger auf dem europäischen Kontinent ist die Türkei: Das Land hat sich unter den größten Industrie- und Schwellenländern von Platz 19 auf fünf vorgeschoben.
Was machen die beiden Staaten besser als der Rest Europas? Und was kann Deutschland, das sich den Fortschritt in Sachen Digitalisierung unter der neuen Ampelregierung auf die Fahnen geschrieben hat, von Rom und Ankara lernen?
Da ist zum Beispiel die öffentliche Verwaltung: Wer in der Türkei in den Genuss des digitalen Wandels kommen will, muss bloß aufs eigene Smartphone schauen. Über die App „eDevlet“ – zu Deutsch „eStaat“ – können Bürgerinnen und Bürger in der Türkei nahezu alle staatlichen Dienstleistungen abrufen, vom Meldenachweis über die Steuererklärung bis hin zur Namensänderung. Und das ohne Terminsuche, ohne Warten beim Amt und auch ohne Barzahlungen für ein Dokument.
Trotz wirtschaftlicher Schwierigkeiten im Schatten der autoritären Politik Ankaras, trotz Inflation und Pandemie ist das Land in der digitalen Transformation ein ganzes Stück weiter als Deutschland. Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung ist kein Prestigeprojekt oder politischer Zankapfel, sondern schlicht notwendiges Mittel zum Zweck.
Die digitale Lernplattform Eba gab es in der Türkei schon lange vor Beginn der Corona-Krise
Einige Faktoren machen die Umsetzung einfacher: Türken sind mit dem Internet vertraut, Angst vor Datenklau ist praktisch nicht vorhanden. Schon 2019, so eine Studie des staatlichen Statistikinstituts Tüik, nutzte ein Drittel der Befragten Apps, um Lebensmittel einzukaufen. Die Hälfte der Befragten nutzte das Smartphone bereits, um staatliche Dienstleistungen wie elektronische Rezepte, aber auch andere Behördendienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Für ein Schwellenland ein unglaublich hoher Wert.
Die Digitalisierung ist ein Schubfaktor für Tech-Start-ups in der Türkei. Der lokale Amazon-Konkurrent Trendyol etwa ist bereits mit mehr als zehn Milliarden Dollar bewertet, wobei der Boom im Onlinehandel seit Beginn der Pandemie zusätzlich geholfen hat.
Der türkische Staat nutzt die digitale Affinität seiner Bürger, etwa bei der Bildung. Über das Onlineportal Eba können Schüler bereits seit Jahren Übungsaufgaben abrufen und Nachhilfe beantragen. Das System ist erprobt, weil es auch vor der Covid-Krise bereits regelmäßig genutzt worden ist. Als das Land im April 2020 in den Corona-Lockdown ging, musste nichts vorbereitet werden – alle Schulkinder des Landes mit Internetzugang konnten über Eba Aufgaben und Erklärvideos abrufen.
In Italien und der Türkei unterstützt der Staat die Digitalisierung stark: Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan fördert die Digitalisierung gezielt, denn sie will bei Schlüsseltechnologien unabhängig werden und die heimische Wirtschaft auf Zukunftsmärkte ausrichten.
Im Rahmen der „technologiegetriebenen Industrie-Initiative“, die das Ministerium für Industrie und Technologie Anfang des Jahres verkündet hat, sollen 919 Produkte vorrangig gefördert werden: von Computerchips über Transportfahrzeuge bis zu Medikamenten. 161 Produkte sind aus dem Bereich Computertechnik, 158 beschäftigen sich mit Robotik und intelligenten Maschinen.
Das Thema digitale Transformation genießt besondere Aufmerksamkeit. Start-ups aus diesem Feld winken eine Abnahmegarantie der Regierung, Steuernachlässe, Hilfe bei der Suche nach Büros und Produktionsstätten sowie zinsgünstige Darlehen. Auch sollen junge Unternehmen, die sich diesen Schlüsseltechnologien widmen, für mehrere Jahre von der Mehrwertsteuer befreit werden.
Bis zu 75 Prozent der Ausgaben für Forschung und Entwicklung könnten außerdem vom Staat übernommen werden. Und wer fleißig Beschäftigte einstellt, bekommt auch Unterstützung bei der Sozialversicherung für die Angestellten.
„Italien hat heute schon eine Vorbildfunktion für Deutschland bei der Digitalisierung“
Auch in Italien fördert der Staat die digitale Umrüstung mit steuerlichen Erleichterungen. Durch den Corona-Wiederaufbaufonds der EU fließen nun noch einmal rund 40 Milliarden Euro in die Digitalisierung des Landes. Der Wandel fegt durch alle Branchen: ob Keramikproduzenten oder Modebranche, ob Landwirtschaft oder Tourismus. Kleine wie große Betriebe setzen derzeit auf die Digitalisierung ihrer Prozesse.
Davon profitiert auch die Start-up-Welt. Zwar hinkt das Land Frankreich oder Deutschland beim Gründen noch hinterher – aber es holt auf. Neue Inkubatoren sind entstanden, in Rom, Turin und Mailand gibt es schicke Hubs und Gründerzentren, an denen Konzerne angedockt sind.
„Viele Gründer gehen ins Ausland, aber jetzt ist der Moment gekommen, um es in Italien zu versuchen“, sagt Federico Marchetti, Gründer des Luxusmodehändlers Yoox Net-a-Porter. „Der Moment ist historisch, Bürokratie wird abgebaut, Prozesse vereinfacht.“
Die Digitalisierung des Landes ist eines der Kernanliegen der Regierung von Premier Mario Draghi, die seit Februar im Amt ist. Schon jetzt hat sie wichtige Reformen auf den Weg gebracht – bei Justiz, öffentlicher Verwaltung und Steuern. „Italien hat heute schon eine Vorbildfunktion für Deutschland bei der Digitalisierung, vor allem was die öffentliche Verwaltung anbelangt“, findet Peter Adrian, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK).
25 Millionen Italiener haben bereits eine digitale Identität. Seite Mitte November können damit, ähnlich wie in der Türkei, die meisten Behördengänge online erledigt werden: Geburtsurkunde, Familienstatus, Wohnsitz – alles digital abrufbar. Wer die staatliche App IO nutzt, profitiert zudem auch in der Coronakrise: Impfzertifikate und Coronatest-Ergebnisse werden direkt in die App geladen, komplett automatisch.
Apple hat Neapel als Standort auf die Tech-Landkarte gebracht – EU-Gelder ermöglichen den Wandel
Welche Chancen der digitale Wandel bietet, zeigt ein Besuch in Neapel: Das Viertel San Giovanni a Teduccio hatte lange keinen guten Ruf. Touristen verirrten sich kaum hierher in den Südosten der Stadt, in dem vor allem Hafenarbeiter wohnten. Doch seit fünf Jahren wuseln hier Hunderte Studenten herum, Cafés sind entstanden, neue Lokale. Das Viertel hat sich gewandelt, seit die Universität Federico II auf der Ruine einer Tomatendosenfabrik ihren neuen Campus eingeweiht hat. Finanziert wurde das Projekt mit Geldern der EU – und mit Hilfe von Apple.
Der Tech-Gigant aus Kalifornien hat ausgerechnet im armen Süden Italiens seinen ersten Entwickler-Campus gegründet. Den ganzen dritten Stock nimmt die Apple Academy ein, dezent klebt der angebissene Apfel über den Türen, etwas größer prangt er auf den Touchscreens in der Open-Space-Etage. Junge Leute in Shirts und Sneakers sitzen vor Macbooks und iPhones, die meisten sind Männer. Es ist Semesterbeginn, nach einem Jahr Coronapause startet ein neuer Jahrgang.
„Es ist ein sehr inspirierendes Programm, weltweit einmalig“, findet Moritz Philip Recke. Er ist Ingenieur, leitete den Digitalbereich einer Verlagsgruppe, bevor er 2017 zur Academy kam. Nach dem Abschluss blieb er als einer von 20 Mentoren.
Es gibt hier keinen Frontalunterricht, keine Vorlesung, keine Noten. Die Studenten lernen und entscheiden selbstständig, welche Projekte sie angehen, unterstützt von den Mentoren. Drei Apps entwickeln sie in den zehn Monaten, die sie in Neapel verbringen. Dafür bekommen sie einen Zuschuss von bis zu 7000 Euro. Mieten und Lebensunterhalt sind günstig, viele Studenten kommen damit ohne Nebenjob über die Runden.
„Jeder kann Entwickler werden“, ist Recke überzeugt. Etwa die Hälfte der Studenten hat keine Programmier-Vorkenntnisse. Anfangs gehe es viel um Konzeption, ums Design von Prototypen. Fast 2000 junge Menschen haben das englischsprachige Programm schon durchlaufen, mehr als die Hälfte Italiener. Viele davon landen in italienischen Start-ups, aber auch Firmen aus Berlin, Barcelona oder London kommen zur abschließenden Recruitingmesse.
Neapel ist dadurch auf der Tech-Landkarte aufgetaucht. Apple hat eine Sogwirkung: In der Umgebung haben sich auch der Telekommunikationskonzern Tim, die Unternehmensberatung Accenture und der US-Techkonzern Cisco angesiedelt. Das bietet der Region, in der die Jugendarbeitslosigkeit noch höher liegt als die fast 30 Prozent landesweit, soziale Möglichkeiten. Neapel bietet wieder echte Perspektiven. Und das auch langfristig: Gerade hat Apple die Finanzierung bis 2025 gesichert.
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