Einwanderung in die USA Zwischen Kontrollen und humanitärer Flüchtlingspolitik: Bidens Mittelweg könnte scheitern

Die Flüchtlingszahlen an der mexikanischen Grenze erreichen neue Höchststände.
McAllen, Washington Rund tausend Menschen kauern dicht an dicht unter der Anzalduas-Verkehrsbrücke im Süden von Texas, auf der amerikanischen Seite der Grenze zu Mexiko. Es sind Flüchtlinge, die von der Grenzpolizei aufgegriffen wurden, doch die Auffangstationen sind völlig überfüllt.
Deshalb harren sie über Stunden bei 40 Grad aus, die Sonne brennt, die Brücke spendet nur einen schmalen Streifen Schatten. „Die Situation ist außer Kontrolle“, warnte der zuständige Bezirksrichter Richard Cortez.
Es sind verstörende Bilder, die der US-Fernsehsender „Fox News“ in Dauerschleife ausstrahlt. Bilder aufgenommen mithilfe von Drohnen. Im Jahr 2018, während der Präsidentschaft von Donald Trump, schockierten Bilder von Flüchtlingskindern in Käfigen die Welt.
Doch auch nach dem Regierungswechsel läuft an der Grenze zu Mexiko vieles schief. US-Präsident Joe Biden gerät wegen seiner Migrationspolitik unter Druck. Denn die Zahl der Flüchtlinge geht nicht, wie sonst häufig, in den extrem heißen Sommermonaten zurück. Stattdessen sind die illegalen Grenzübertritte auf dem höchsten Stand seit über zwei Jahrzehnten, allein im Juli wurden 210.000 Migranten registriert.
Die meisten werden direkt abgelehnt, ohne Asylverfahren. Doch das Transitland Mexiko nimmt nicht jeden Flüchtling zurück, und so werden Tausende Menschen täglich hin und her transferiert, die Auffanglanger auf beiden Seiten der Grenze haben keine Kapazitäten mehr. Die Covid-Welle verschärft die Lage, die hochansteckende Delta-Variante treibt Infektionen unter Flüchtlingen und Grenzpersonal in die Höhe.
Der Weg über den Rio Grande ist die kürzeste Route
Die Krise an der Südgrenze ist ein wunder Punkt für Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris. Mehr als die Hälfte der US-Bürgerinnen und -Bürger ist unzufrieden mit ihrem Flüchtlingskurs. Im Frühjahr berief der Präsident seine Stellvertreterin zur Chefkoordinatorin für Migrationspolitik. Doch Harris’ Aufgabe ist nicht auf schnelle Erfolge angelegt, sie verhandelt mit zentralamerikanischen Ländern wie Guatemala, Honduras and El Salvador über langfristige Strategien gegen Korruption, Gewalt, Arbeitslosigkeit und mangelnde Bildung.
Für die meisten Menschen sind die Mühen der Diplomatie nicht sichtbar, dafür die kurzfristigen Folgen der vielen Grenzübertritte umso mehr. Die Anzalduas-Brücke liegt am Stadtrand von McAllen, mitten im Tal des Rio Grande, der sich Hunderte Kilometer lang durch das Grasland zwischen Mexiko und Texas schlängelt.
Wollen Flüchtlinge aus Zentralamerika in die USA, ist der Weg ins Rio Grande Valley die kürzeste Route. Die Region ist ein Gradmesser dafür, wie angespannt die Situation ist – und aktuell scheint sie so dramatisch wie lange nicht mehr.
Noch im Juni hatten sich alle vier Landkreise an der Grenze gegen eine Vorschrift des texanischen Gouverneurs Greg Abbott gewehrt, der wegen der Flüchtlingskrise den Notstand ausgerufen hatte. „Wir sind ein sicherer Ort, es ist eine schöne Stadt“, sagte Bürgermeister Javier Villalobos damals noch.

Die Ordensschwester Normal Pimentel wurde von Papst Franziskus für ihre Flüchtlingshilfe ausgezeichnet.
Doch inzwischen hat sich die Stadt entschieden, den Notstand auszurufen. Mithilfe von Bundesmitteln lässt sie Notunterkünfte hochziehen, weil die bestehenden Lager niemanden mehr aufnehmen können. „Bei 477 Prozent Kapazität“ operieren die Auffangstationen im Rio Grande Valley laut Behörden. Und das, obwohl die US-Regierung wegen Delta zu mehr Abstand und Vorsicht mahnt.
Das Weiße Haus erwägt Massenimpfung von Flüchtlingen
Selbst ehrenamtliche Helfer, ohne die das System längst zusammenbrechen würde, sind überfordert. Die Ordensschwester Normal Pimentel, die von Papst Franziskus für ihre Flüchtlingshilfe ausgezeichnet wurde, leitet das größte kirchliche Auffanglager der Region.
Rund tausend Menschen täglich beherbergt der schmucklose Flachbau in McAllen, ein ehemaliger Nachtklub. Wo früher Cocktails gemixt wurden, werden jetzt Mundwasser, Tampons, Deo, Feuchttücher über den Tresen gereicht. Jeder Flüchtling – fast die Hälfte sind Kinder und Jugendliche – kann hier duschen, bekommt einen Covid-Test, Mahlzeiten, eine Schlafmatte „und einen Teil seiner Würde zurück“, so Pimentel.

Auch nach dem Regierungswechsel in den USA läuft an der Grenze zu Mexiko vieles schief.
Länger als 24 Stunden bleibt hier niemand. Ärzte und Anwälte beraten die Ankommenden und organisieren die Weiterreise zu Verwandten in den USA. Nur in Ausnahmefällen bekommen sie Bus- und Flugtickets bezahlt. „Wir helfen ihnen, aber ihre Familien müssen die Reise finanzieren. Es ist der erste Schritt in die Eigenverantwortung“, so Pimentel.
Beim Begehen des Geländes fällt auf, wie unfassbar gut organisiert ihre Arbeit ist: Menschen warten geduldig in Schlangen auf den nächsten Schritt, Kinder ruhen auf Sportmatten, Helfer verteilen Reissuppe mit Brot. Als die Nonne im Juni mit dem Handelsblatt sprach, wirkte die Situation unter Kontrolle. Doch vor einigen Tagen, berichten Lokalmedien, bat Pimentel die Grenzpolizei zum ersten Mal, keine weiteren Busse mit Flüchtlingen zu schicken. Auch ihr Lager ist zu voll.
Die Biden-Regierung versucht gegenzusteuern. Vergangene Woche ließ der Präsident eine umstrittene Maßnahme verlängern, die Trump nach dem Ausbruch der Covid-Krise einführte. Die Regel ist in den USA bekannt als „Titel 42“. Zum Schutz der öffentlichen Gesundheit verbietet sie Einreisen aus Mexiko oder Kanada, vergleichbar mit dem „Travel Ban“ gegen Europa.
In der Praxis bedeutet das, dass die USA Hunderttausende Migranten direkt wieder zurückschicken kann, ohne ein Asylverfahren in Aussicht zu stellen. Wegen der rasanten Ausbreitung der Delta-Variante bleiben die Grenzen für Menschen ohne amerikanischen Pass auf legalem Weg vorerst dicht.
Parallel, so berichtet die „Washington Post“, arbeitet das Weiße Haus an Plänen, verstärkt Vakzine an die Grenze zu schicken und möglichst viele Flüchtlinge zu impfen. Eine Statistik, wie viele Flüchtlinge Covid haben, ist schwer zu bekommen, denn beim Schutz der 3000 Kilometer langen Grenze sind viele Behörden beteiligt. Doch allein McAllen meldet 1500 positive Fälle unter Flüchtlingen pro Woche, das Zehnfache vom Frühjahr.
Ein Grenzpolizist berichtet von seiner Arbeit im Niemandsland
Unbegleitete Kinder und Jugendliche sowie viele Familien sind seit Bidens Amtsantritt von „Titel 42“ ausgenommen. Die Entscheidung war ein Zeichen dafür, dass der Demokrat die Migrationspolitik humaner gestalten wollte als Trump, der mit Hetze und Rassismus Millionen mobilisierte und sich McAllen als eine Station für seine Comeback-Tour aussuchte.
Viele Flüchtlinge, erzählt ein Grenzpolizist, verstünden Bidens Lockerung aber als Signal, dass sie vielleicht doch eine Chance auf Asyl bekommen. Jeden Morgen sammelt der Polizist Leitern ein, Spuren nächtlicher Kletteraktionen an den Zäunen, die Mexiko von den USA trennen.
Im Niemandsland des Grenzgebiets ist es schwül, binnen Sekunden klebt die Kleidung am Körper, es riecht nach Sumpf. Die Gegend sieht aus, als hätte ein Fabelwesen wahllos Gemüsefelder, Palmen, Staudämme, ein paar Kühe und Klosterruinen in der Steppe verstreut. Schotterstraßen enden im Nichts, alle paar Minuten kreuzt ein Geländewagen der Border Patrol den Weg.
Von Flüchtlingen ist weit und breit keine Spur. Wirklich nicht? „Wir haben drei Gruppen im Visier“, sagt der Grenzpolizist und deutet auf sein GPS-Gerät. „Wahrscheinlich werden sie hier langgehen. Und da, im Unterholz, werden sie sich verstecken“, erklärt er und spuckt Kautabak in den Sand. „Sie spielen Katz und Maus mit uns.“

Die US-Vizepräsidentin ist Chefkoordinatorin für Migrationspolitik.
Je länger man sich mit ihm unterhält, desto klarer wird, wie komplex die Situation ist. „Jeder Mensch hat das Recht herzukommen“, betont er. „Ich möchte, dass jeder die Chance auf Asyl bekommt.“ Doch so unreguliert wie jetzt könne es nicht weitergehen.
Der Polizist erzählt von Schießereien der Drogenkartelle und von Pädophilen, die dreijährige Jungen in Autos verschleppen. Er berichtet von Müttern, die auf der Flucht vergewaltigt werden, und von Schmugglern, die Säuglinge über meterhohe Absperrungen schleudern.
„Stattet die offiziellen Grenzposten besser aus und stärkt die legale Einwanderung“, fordert er von Washington. Aber die illegalen Übertritte hätten mit humanitärer Hilfe wenig zu tun. Trumps Mauer, meint der Polizist, sei in dieser Hinsicht keine schlechte Idee gewesen. „Es ist unmöglich für uns, jeden Meter zu überwachen.“
Republikanerin Haley: Harris „kann es nicht“
Biden könnte am Mittelweg aus einer menschlichen Flüchtlingspolitik und besseren Kontrollen ebenso scheitern wie viele Präsidenten vor ihm. Eine Einwanderungsreform scheint angesichts knapper Mehrheiten im US-Kongress ausgeschlossen. Das linke Lager seiner Partei wirft ihm bereits Versagen vor.
Der größte Verband für Bürgerrechte, die American Civil Liberties Union, will die US-Regierung per Klage zur Aufhebung von „Titel 42“ zwingen. Auch von Rechts stehen Biden und Harris in der Kritik. „Sie hat es versäumt, die Grenze zu sichern, sie hat die Drogenkartelle ermutigt“, twitterte die Republikanerin Nikki Haley an die Vizepräsidentin gerichtet. „Sie kann es nicht. Wir brauchen echte Führung.“ Haley wird ebenso wie Harris als Kandidatin für das Weiße Haus gehandelt.
Die Migrationspolitik birgt schon im kommenden Jahr politischen Zündstoff, wenn die wichtigen Kongresswahlen anstehen. Zuletzt verbuchten die Republikaner Rekordzuwächse unter Latinos, von denen nicht wenige härtere Maßnahmen an der Grenze befürworten.
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