Enrico Letta & Henrik Enderlein im Interview „Es braucht Führungsstärke“

Enrico Letta, ehemaliger Ministerpräsident Italiens und Henrik Enderlein ,Wirtschaftswissenschaftler im Interview in Berlin.
Berlin Berlin, Friedrichstraße. Vorstellung des „Governance-Reports 2015“. Enrico Letta kommt verspätet aus Paris. Der einstige italienische Premier trifft in der Hertie School of Governance auf den Ökonomen Henrik Enderlein, Mitautor des Reports. Ein Gespräch über Europa mit den Redakteuren Hans-Jürgen Jakobs und Torsten Riecke.
Herr Enderlein, Herr Letta, haben Sie in letzter Zeit Menschen getroffen, die leidenschaftlich über Europa geredet haben?
Enderlein: Ja – die meisten redeten gegen Europa. Leider gibt es nicht die gleiche Leidenschaft, wenn es darum geht, die guten Seiten Europas zu zeigen.
Letta: Die Verantwortung dafür liegt nicht bei den Populisten. Sie liegt bei den proeuropäischen Politikern und Meinungsführern. Wir lassen es zu, dass die Einwanderungs-Diskussion enorm aufgebläht wird, anstatt über die entscheidende Frage zu sprechen, welche Rolle Europa in der Welt spielen will.
Der Euro sollte als vereinigende Kraft wirken. Vielleicht fehlt es einfach an einer zündenden Idee.
Letta: Nie mehr Krieg, das reicht nicht. Die Erinnerung an Helmut Kohl und François Mitterrand, Hand in Hand in Verdun, ist verblasst.
Enderlein: Europa ist unsere Lebensrealität. Wir sollten die wirtschaftspolitischen Erfolge, auch dank des Euros, nie kleinreden. Entweder fällt Europa in die Kleinstaaterei zurück oder es wird zu einem wahren Global Player.
Letta: In Zukunft, in der globalisierten Welt, werden die einen die Regeln machen und die anderen die Regeln befolgen. Ich will, dass meine Kinder zur ersten Gruppe gehören. Das gelingt nur gemeinsam mit den Europäern. Kein einzelnes Land ist stark genug, um es mit China und den USA aufzunehmen.
„Gemeinsam gehen, gemeinsam weiterkommen“ heißt Ihr Buch, das Sie nächste Woche veröffentlichen.
Letta: Es handelt zur Hälfte von Europa. Es braucht neue Ideen.
14 Monate nach Ende Ihrer Ministerpräsidenten-Zeit versuchen Sie offenbar ein Comeback.
Letta: (Lacht) Lassen Sie sich überraschen. Eines weiß ich: Wir brauchen ein stärkeres Europa. Wir brauchen für den Binnenmarkt größere Unternehmen, etwa in der Energie oder der Telekommunikation. Im Telekombereich gibt es in Europa immer noch 17 Betreiber, in China und den USA nur jeweils vier. Nicht einmal Gesetze und Standards sind bei uns angepasst. Wir brauchen eine andere Wettbewerbspolitik und mehr Champions. Das einzige gute Beispiel ist Airbus.
Enderlein: Die Mobilität bei Waren und Dienstleistungen sowie im Arbeitsmarkt muss weiter steigen. Heute werden nicht mal überall Berufsabschlüsse gegenseitig anerkannt. Europa muss attraktiver werden, etwa mit einem Konjunkturfonds, der sich an eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung anlehnt. Boomende Länder würden in einen Fonds einzahlen, stagnierende Staaten würden Gelder erhalten. Deutschland wäre keineswegs Zahlmeister. In den Jahren 2002/2003, als die Joblosigkeit bei uns hoch war, hätten wir profitiert. Das damals florierende Spanien hätte in die Kasse eingezahlt. Ein solcher Fonds wäre ein Puffer, um zyklische Schocks abzufedern.
Die Euro-Staaten erschöpfen sich in ihrer Rettungspolitik. Die Folge: Derzeit hat nur eine Minderheit Vertrauen in Europa.
Enderlein: Das stimmt, doch wir sind viel weiter, als die meisten glauben. Aus dem BMW-Konzern höre ich, dass fast die Hälfte des Fünfer Modells aus dem osteuropäischen Ausland stammt. Dann müsste es doch heißen: „Made in Europe“ statt „Made in Germany“.
Letta: Mich hat erschreckt, was mir bei einem Auftritt in einer Schule von 16– und 17-Jährigen erzählt wurde, warum Europa so schlecht gelitten ist: Weil einige Staaten, Deutschland vorneweg, so stark sind, und die anderen so schwach. Dabei könnten wir von den Erfolgreichen lernen! „Wer hat Angst vor Deutschland?“ habe ich das in meinem Buch genannt.
Enderlein: Ich glaube nicht, dass die Menschen Angst vor klugen europäischen Reformprojekten haben, selbst wenn sie zu mehr Europa führen. Ein gemeinsamer Datenschutz in Europa wäre ein gutes Projekt. Im Moment müssen die Firmen trotz einer Direktive aus Brüssel mit 28 unterschiedlichen Regelwerken klarkommen. Hier muss Europa seine Kräfte bündeln. Nötig ist, dass wir Debatten über Europa offen führen und Streit austragen. In Deutschland hängen viele der Illusion an, wir seien in der Wirtschaftspolitik national souverän. Das sind wir nicht mehr, seit wir den Euro eingeführt haben.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.