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Türkische Flagge weht über Istanbul

IWF-Volkswirte glaube, die Rezession in der Türkei geht bald zu Ende.

(Foto: Reuters)

Erdogan-Kritik Die türkische Wirtschaft ist besser als ihr Ruf – das Problem ist die Politik

Der türkische Präsident greift die „Financial Times“ an. Doch die in der Zeitung geäußerte Kritik bezieht sich in großen Teilen auf den Präsidenten selbst.
20.04.2019 - 11:28 Uhr Kommentieren

Istanbul Mit scharfer Kritik hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan auf die Berichterstattung westliche Medien über die Wirtschaftslage im Land reagiert. Teile der westlichen Welt mit „all ihren Medienorganen“ stellten die türkische Wirtschaft so dar, als wäre sie „kollabiert und erledigt“, sagte Erdogan am Donnerstag auf einer Konferenz in Ankara.

Erdogan kritisierte besonders die „Financial Times“. Das Blatt hatte am Donnerstag berichtet, die türkische Zentralbank habe ihre Devisenreserven mit „Milliarden Dollar kurzfristiger Anleihen“ gestärkt und habe damit bei Investoren die Besorgnis ausgelöst, die Türkei sei nicht fähig, eine weitere Lira-Krise zu bekämpfen. Die Finanznachrichtenagentur Bloomberg veröffentlichte am Donnerstagabend einen Bericht mit dem Titel: „Warum sorgt sich jeder um die Devisenreserven der Türkei?“

Die Währung des Landes, die türkische Lira, verlor am Donnerstag zwischenzeitlich zwei Prozent und erholte sich im Anschluss. Erdogan hingegen beruhigte sich nicht. „Kennst Du die Türkei, die vier Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat?“, sagte Erdogan. „Wie viele Flüchtlinge gibt es wohl in Deinem Land? Schreibt darüber einen Bericht!“ Weiter sagte er, die Zeitungen könnten schreiben, was sie wollten, die Türkei stehe aufrecht und schreite erstarkt voran.

Ist das wirklich so? Wo ist die Kritik an der türkischen Wirtschaft gerechtfertigt? Und wo hat der türkische Präsident recht?

1. Die Reserven der Zentralbank sind niedrig

Die türkische Zentralbank hat derzeit nicht genügend Reserven, um die kurzfristigen Schulden türkischer Unternehmen zu begleichen. Den Netto-Reserven der Geldwächter in Höhe von 28,4 Milliarden US-Dollar stehen rund 118 Milliarden US-Dollar an Schulden gegenüber, die innerhalb der nächsten zwölf Monate beglichen werden müssen.

Doch die Reserven der Notenbank entsprechen der Zählweise des Internationalen Währungsfonds (IWF). Laut der Nachrichtenagentur Bloomberg ist die Zentralbank wegen eines 20 Jahre alten Abkommens mit dem IWF verpflichtet, bestimmte Reserven nicht in die Rechnung einzubeziehen. Etwa, wenn türkische Banken Sicherheiten für Fremdwährungskonten türkischer Kunden bei der Zentralbank hinterlegen müssen. De facto gelten auch diese Gelder als Reserve.

Die Bruttoreserven summieren sich deshalb je nach Rechnung auf rund 98 Milliarden US-Dollar. Das ist immer noch wenig. Beobachter fragen sich allerdings auch, ob die Zentralbank überhaupt in der Lage wäre, eine neue Währungs- oder Schuldenkrise im Land zu bekämpfen.

2. Die Rezession ist bald überwunden

Seit Oktober schrumpft die türkische Wirtschaft, nach zwei Quartalen in Folge sprechen Experten von einer Rezession. Die Folgen: Unternehmen erhalten weniger Aufträge, Insolvenzen drohen. Dadurch werden Mitarbeiter entlassen. Im Januar hatte die Arbeitslosenquote mit 14,7 Prozent den höchsten Stand seit zehn Jahren erreicht.

Das Gehalt der Betroffenen schrumpft auf die Höhe des Arbeitslosengeldes oder geht gegen Null. Sie können sich weniger leisten, konsumieren weniger und können eventuell sogar ihre bestehenden Schulden nicht begleichen. Gleichzeitig werden Produkte teurer: Die Inflation liegt bei rund 20 Prozent.

Ein böser Kreislauf, den auch die schleppende Weltwirtschaft mit angekurbelt hat. Doch Experten zufolge dauert es nicht lange, bis die türkische Wirtschaft wieder wächst. Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt, dass sich die Konjunktur nach einem Negativjahr 2019 im Jahr darauf wieder dreht: Die IWF-Volkswirte schätzen das Wachstum für 2020 auf 2,5 Prozent.

Schwellenländer wie die Türkei und Argentinien würden demnach im kommenden Jahr maßgeblich zum weltweiten Wirtschaftswachstum beitragen. Es gibt bereits jetzt Indikatoren, die das nahelegen: Der Einkaufsmanager-Index (PMI) für die Türkei ist zuletzt wieder gestiegen, auch die Industrieproduktion entwickelt sich positiv – während beide Werte zum Vergleich in Deutschland derzeit deutlich schwächeln.

3. Die Realwirtschaft ist besser als ihr Ruf

Im Ausland ist wenig über türkische Konzerne bekannt, doch es gibt einige große Player, die auch weltweit ins Gewicht fallen. Angefangen bei Agrargütern: So stammen laut einer Erhebung der Unternehmensberatung McKinsey rund 60 Prozent aller weltweit konsumierten Haselnüsse aus der Türkei, des Weiteren zehn Prozent aller weltweit konsumierten Nudelprodukte. Bei Textilien- und Juwelierexporten gehören türkische Firmen zu den Top 10 weltweit. Der Küchengerätehersteller Arcelik ist in 32 Ländern der Welt aktiv, das Modelabel LC Waikiki gar in 36.

Und auch im Heimatmarkt haben türkische Firmen teils hohe Marktanteile. So findet man in den Wohnungen und Kneipen des Landes häufiger Flachbildschirme der türkischen Marke Vestel als Geräte ausländischer Konkurrenten wie LG, Panasonic oder Sony.

Diese Firmen müssen keine Krise fürchten, auch wenn die Wirtschaft ihres Heimatmarktes derzeit schwächelt. Konzerne wie Turkish Airlines, die Koc-Gruppe oder auch große Banken vermelden teils Rekordgewinne. Außerdem gibt es Zehntausende inhabergeführte Mittelständler in der Türkei. Sie sind flexibel und werden von der Regierung bewusst unterstützt: Alleine im ersten Quartal 2019 investierte das türkische Industrieministerium mehr als 100 Millionen Dollar, um ihre Konkurrenzfähigkeit zu stärken.

4. Die Währungskrise hatte auch etwas Gutes

Viele dieser Konzerne haben in den vergangenen zwei Jahren besonders profitiert – von der schwachen türkischen Lira. Ihre Produkte wurden im Ausland billiger. Ein türkischer Flachbild-Fernseher im Wert von 3000 Lira kostete vor zwei Jahren noch fast 900 Dollar, inzwischen sind es 430 Dollar.

Viele Lebensmittelhersteller und Elektronikhersteller profitierten von dieser Abwertung und bauten ihre Exporte aus. Ähnliche Vorteile erzielten Zuliefererbetriebe, wenn etwa ausländische Autohersteller derzeit günstiger Autoteile bei türkischen Betrieben ordern können.

5. Zwei Branchen leiden unter einem hohen Schuldenberg

Das gilt jedoch bei weitem nicht branchenübergreifend. Ganz besonders gebeutelt sind der Energie- sowie der Bausektor. Energiefirmen wie etwa lokale Gasversorger haben das Problem, dass sie Öl oder Gas am Weltmarkt einkaufen müssen. Dort wird in US-Dollar abgerechnet – die Kunden in der Türkei bezahlen allerdings weiterhin in Lira.

Sprich: Je schwächer die Lira zum Dollar wird, desto stärker übersteigen die Ausgaben die Einnahmen. Der Bausektor kämpft mit ähnlichen Problemen. Hinzu kommt: Wegen der Rezession und der weltweit nachlassenden Nachfrage werden weniger Häuser und Fabrikhallen gebaut. Der türkische Finanzminister Berat Albayrak hat kürzlich angekündigt, zwei staatliche Fonds könnten notleidende Kredite in den beiden Branchen aufkaufen.

6. Das größte Problem: die Politik

Jedes Land macht mal eine Schwächephase durch. Das muss nicht gleich heißen, dass ausländische Unternehmen oder andere Staaten gleich das Vertrauen verlieren. Bei der Türkei war das so, und das lag weniger an der Wirtschaft, sondern vielmehr an der Politik des Landes.

Für die sehr straffen Sicherheitsmaßnahmen nach einem Putschversuch sowie einer blutigen Terrorserie konnten Investoren teilweise Verständnis aufzeigen. Doch dieses war gewichen nach Aussagen des türkischen Präsidenten, er wolle die Politik der Notenbank mitbestimmen.

Seitdem sind Beobachter aus der türkischen Wirtschaft besorgt, die Wirtschaftspolitik sei weniger berechenbar geworden. „Der institutionelle Rahmen in der Türkei scheint zu zerbrechen“, sagte kürzlich ein Analyst. Dass der Finanzminister gleichzeitig Schwiegersohn von Präsident Erdogan ist, schürte bei vielen zudem die Angst, dass sich der Präsident damit ein Eingriffsrecht in die Finanzpolitik des Landes erkauft hat.

Das muss nicht so sein, aber der Anschein ist da. Und das ist der Hauptgrund dafür, dass das Vertrauen in die Türkei derzeit so niedrig ist. So lässt sich erklären, dass internationale Anleger alleine seit Jahresbeginn rund 1,6 Milliarden Dollar Investmentgelder abgezogen haben – obwohl das Geld in der Türkei eigentlich gut und lukrativ angelegt war.

Was die Zentralbank angeht, so hat die Institution bei Notenbankern in der ganzen Welt grundsätzlich einen guten Ruf. Und so würde sich niemand groß wundern, wenn sie die Situation nutzt, dass türkische Geschäftsbanken derzeit viele Milliarden Dollar „übrig haben“.

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