Erdogan würde so mächtig wie nie. Sobald die Verfassungsänderung mit der Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft tritt, fällt das Verbot für den Präsidenten, Mitglied einer Partei zu sein. Erdogan dürfte dann wieder AKP-Chef werden. Ansonsten wird die Reform schrittweise umgesetzt. Ihren Abschluss findet sie erst mit Parlaments- und Präsidentenwahlen, die für November 2019 geplant sind, aber vorgezogen werden können. Seine volle Machtfülle als Staats- und Regierungschef erhielte Erdogan erst nach einem Sieg bei dieser Wahl.
Für sie würde sich mit einem Ja beim Referendum eine lange Serie von Niederlagen fortsetzen. Durch den Zugewinn an Macht für den Präsidenten würde der Spielraum der ohnehin zahnlosen Opposition im Parlament noch weiter eingeschränkt. Die außerparlamentarische Opposition ist schon jetzt demoralisiert, der Ausnahmezustand verhindert Proteste weitgehend. Erdogan-Gegner befürchten, dass ihre Verfolgung noch zunehmen könnte.
Ein Ja beim Referendum würde zumindest kurzfristig politische Stabilität bedeuten. Für die Wirtschaft ist das immer gut. Ob die Türkei auch langfristig stabiler würde, ist aber offen. Erdogan hat zudem ein mögliches Ende des EU-Beitrittsprozesses nach einem Sieg beim Referendum ins Spiel gebracht. Zwar würde das nicht die aus ökonomischer Sicht wichtigere Zollunion mit der EU beenden. Für westliche Investoren wäre aber auch die politische Abkehr der Türkei von Europa keine vertrauensbildende Maßnahme.
Die AKP-Regierung verspricht, dem Terrorismus würde ein Ende gesetzt, weil unter dem Präsidialsystem schneller und effektiver Entscheidungen getroffen werden können. Ob das aber wirklich zu einer Abnahme der Gewalt im Land führt, ist ungewiss. Die Opposition verweist darauf, dass es der AKP auch nach bald 15 Jahren an der Macht nicht gelungen ist, den Terrorismus auszumerzen - im Gegenteil: Seit Mitte 2015 eskaliert die Gewalt im Land.
Für die Verteidigungsallianz ist es enorm wichtig, dass die Türkei ein verlässlicher Bündnispartner bleibt - vor allem, weil über das Land an der Schnittstelle zwischen Europa, Asien und Nahost zahlreiche Anti-Terror-Einsätze laufen. Wenn ein Ja beim Referendum zu mehr politischer Stabilität führt, kann das der Nato nur nutzen - zumindest dann, wenn es nicht zu einer dauerhaften Abkehr von rechtsstaatlichen Prinzipien kommt. Letzteres könnte am Image der Nato kratzen.
Für die EU birgt ein Sieg von Erdogan zumindest Risiken. Sollte sich die Türkei nach der Verfassungsänderung weiter von europäischen Standards und Normen entfernen, könnte sie sich gezwungen sehen, die EU-Betrittverhandlungen einseitig abzubrechen. Dies wiederum könnte die Türkei zum Anlass nehmen, die Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise einzuschränken.
Zumindest ist der Wahlkampf mit Nazi-Vergleichen vorerst vorbei. Die Beziehungen beider Länder würden sich aber trotzdem nicht verbessern. Von den deutschen Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind Erdogans Verfassungspläne weit entfernt. Das würde das Verhältnis dauerhaft eintrüben und die Zusammenarbeit weiter erschweren.
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