Ethikmaßstäbe EU-Parlamentarier sind mit neuen Kommissaren strenger als mit sich selbst
Brüssel Es läuft nicht rund für Ursula von der Leyen in Brüssel: Die designierte EU-Kommissionspräsidentin weiß selbst nicht genau, wann sie ins Amt kommt. Und sie kann auch nicht sagen, wer ihrem Team am Ende angehören wird: Vier von 28 Stellen in der EU-Kommission sind nach wie vor vakant.
Großbritannien weigert sich, überhaupt einen Kommissar nach Brüssel zu entsenden. Die Bewerber aus Rumänien, Ungarn und Frankreich fielen im Europaparlament durch. Ob die Ersatzkandidaten vor den EU-Volksvertretern bestehen können, ist keineswegs sicher.
Nächste Woche muss der neue französische Kandidat Thierry Breton die erste Hürde im Parlament nehmen: Der Rechtsausschuss überprüft seine Vermögensverhältnisse auf mögliche Interessenkonflikte. Topmanager Breton – derzeit ist er Vorstandschef des IT-Dienstleisters Atos – versprach zwar, seine Aktienpakete zu verkaufen, wenn er in Brüssel antritt. Doch ob den Abgeordneten das reichen wird, weiß niemand.
Das Europaparlament legt so strenge ethische Maßstäbe an wie nie zuvor – allerdings nicht bei allen EU-Kommissaren. Den künftigen Außenbeauftragten Josep Borrell winkten die Volksvertreter durch, obwohl der Spanier wegen Insiderhandels bestraft worden war. Die bisher nicht vorbestrafte Französin Sylvie Goulard fand dagegen keine Gnade.
Obwohl die Ermittlungen wegen einer Scheinbeschäftigungsaffäre gegen sie nicht abgeschlossen sind, ließen die Abgeordneten die Unschuldsvermutung bei Goulard nicht gelten. „Wir nehmen die Integrität unserer Institutionen sehr ernst und konnten sie deshalb nicht unterstützten“, verkündete Esther der Lange, Vizevorsitzende der größten Fraktion EVP. „Wir haben nur unseren Job als Abgeordnete getan – ohne Übertreibungen und ohne Zugeständnisse“, meinte der französische EVP-Mann Geoffroy Didier.
Die zur Schau getragene Selbstzufriedenheit finden selbst im Europaparlament nicht alle gut. In der EVP sei die Ablehnung von Goulard durchaus umstritten gewesen, heißt es in Fraktionskreisen. „Da gab es Widersprüche“, räumt ein EVP-Mann ein. Die Grünen üben ganz offen Kritik. „Es wurde mit zweierlei Maß gemessen“, meint Europaparlamentarier Daniel Freund.
Das Problem: So streng die EU-Volksvertreter die persönliche Integrität anderer beurteilen, so großzügig behandeln sie sich selbst. Rund ein Drittel der Abgeordneten geht Nebenjobs nach, die ihnen insgesamt zwischen sechs und 16 Millionen Euro jährlich einbringen. Genaueres weiß man nicht, weil die Abgeordneten zu ihren Finanzen nur vage Angaben machen.
Viele Populisten unter den Topverdienern
Das gilt auch für die Art der Nebenbeschäftigung. Berufsbezeichnungen wie „selbstständiger Berater“ reichen aus. Damit sei es „sehr schwierig, potenzielle Interessenkonflikte festzustellen“, moniert die Nichtregierungsorganisation Transparency International.

Zusatzeinkommen von bis zu 425.000 Euro.
Unter den Topverdienern befinden sich auffällig viele Populisten von der Brexit-Partei und von der Lega Nord. Aber auch bekannte Vertreter proeuropäischer Fraktionen sind dabei. Guy Verhofstadt rangiert auf Platz fünf mit einem Zusatzeinkommen von bis zu 425.000 Euro. Der frühere belgische Premier kassiert ein Gehalt als Vorstandschef einer Beteiligungsgesellschaft und Vortragshonorare.
Der französische EVP-Mann Geoffrey Didier verdient als Anwalt bis zu 120.000 Euro jährlich dazu und gehört damit zu den 50 bestbezahlten Europaabgeordneten. Das jährliche Zusatzeinkommen der CSU-Europaparlamentarierin Angelika Niebler liegt irgendwo zwischen 36.000 und 191.000 Euro. Genaueres verrät sie nicht in ihrer Interessenerklärung. Die Anwältin arbeitet für eine US-Kanzlei, die Konzerne wie Facebook zu ihren Kunden zählt.
Obwohl lukrative Nebenjobs im Hohen Haus der EU durchaus üblich sind, wollten manche Abgeordnete der französischen Kandidatin Sylvie Goulard einen Strick daraus drehen. Als EU-Parlamentarierin hatte Goulard zeitweise monatlich 10.000 Euro vom US-Thinktank Berggruen kassiert und wurde deshalb in ihrer ersten Anhörung im Binnenmarktausschuss massiv attackiert – „aus dem Glashaus heraus“, wie ein EU-Diplomat trocken bemerkt.
Der Europäische Rechnungshof (ERH) hat den laxen Umgang des Parlaments mit Nebeneinkünften erst kürzlich kritisiert. Die Einkommensangaben der Abgeordneten würden nur oberflächlich auf ihre Plausibilität geprüft, heißt es in einem Sonderbericht.
Ein schriftliches Standardverfahren dafür gebe es nicht – und daraus resultiere, „dass Pflichten widersprüchlich interpretiert werden“. Das Parlament benötige „robuste Kontrollen“ des von den Abgeordneten angegebenen Einkommens, sagte ERH-Vorstandsmitglied Mihails Kozlovs dem Handelsblatt.
Grünen-Parlamentarier Freund reicht das nicht. Er verlangt, die Nebeneinkünfte der Parlamentarier auf maximal 15 Prozent ihrer Diät zu begrenzen. Das wären nur noch 1.313 Euro monatlich.
Ein anderer Vorschlag kam von der designierten Kommissionspräsidentin. Ursula von der Leyen will eine unabhängige Ethikbehörde schaffen, die alle EU-Institutionen überwacht. Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist dafür.
Was der Präsident des Europaparlaments, David Sassoli, von solchen Initiativen hält, war trotz mehrfacher Nachfragen nicht zu erfahren. Der Sozialdemokrat aus Italien scheint mit dem Status quo zufrieden zu sein.
Doch Rechnungshofprüfer Kozlovs warnt: „Wenn das Parlament das Problem ignoriert“, könne es zu Skandalen kommen, „die den Ruf der EU insgesamt beschädigen.“
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