EU-Gipfel Europas Reifeprüfung: Frankreich fordert eigenständige EU, trifft jedoch auf Skepsis

Der französische Präsident fordert mehr Eigenständigkeit der EU.
Brdo pri Kranju, Paris EU-Ratspräsident Charles Michel hatte schon in seiner Einladung klargestellt, dass zum Abendessen eher schwere Kost auf dem Plan stehen werde, nicht kulinarisch, aber politisch. Er würde sich eine „Strategiediskussion“ über die internationale Rolle der Europäischen Union wünschen, schrieb der Belgier, „im Lichte der jüngsten Entwicklungen in Afghanistan, der neuen Sicherheitspartnerschaft zwischen Australien, Großbritannien und den USA sowie der Evolution unserer Beziehungen zu China“.
Geopolitik also, die ganz großen Themen. Der Gipfel in Slowenien, zu dem sich die europäischen Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsstaaten am Dienstagabend im Schloss Brdo nahe der Hauptstadt Ljubljana einfanden, stand im Zeichen der Ernüchterung über die USA und der schwierigen Frage, was für Europa daraus folgt.
Michel bat die EU-Spitzen, ihre Handy abzugeben. Um die „Vertraulichkeit“ der Gespräche sicherzustellen, wie es hieß.
Bundeskanzlerin Angela Merkel, die zum ersten Mal seit der krachenden Wahlniederlage ihrer Partei wieder das europäische Parkett betrat, sprach am Mittwoch von einer „spannenden Diskussion, die fortgesetzt wird“ – vermutlich aber ohne sie.
Von Merkel sind keine Impulse mehr zu erwarten, ihre Tage an der Spitze der Regierung sind gezählt. Es ist vor allem Frankreich, das den Versuch unternimmt, die EU auf einen neuen außenpolitischen Kurs zu lenken.
Präsident Emmanuel Macron will Europa auf mehr Unabhängigkeit von den USA einschwören. Der neue Sicherheitspakt zwischen den USA, Großbritannien und Australien (Aukus) war ein Schock für Frankreich, er hat der französischen Industrie einen multi-milliardenschweren U-Boot-Deal gekostet.
Doch nach eigener Darstellung geht es Paris weniger um den unerwarteten Verlust des lukrativen Rüstungsgeschäfts oder eine Ehrverletzung auf der Weltbühne. Macron sieht den Vorgang als Warnzeichen für die Europäer.
Die USA hätten nach dem unilateralen Vorgehen beim Abzug aus Afghanistan zum zweiten Mal binnen weniger Monate einen Vertrauensbruch gegenüber europäischen Alliierten begangen, argumentiert die Regierung in Paris.
Widerstand gegen Macrons Initiative
Aus Sicht der Franzosen ist klar, dass die EU selbstständiger werden muss, politisch, technologisch, militärisch. „Strategische Autonomie“ nennen sie das. Wenn Frankreich am 1. Januar die Ratspräsidentschaft der EU übernimmt, soll die „strategische Autonomie“ einer der Schwerpunkte werden.
Geplant ist ein Gipfel, auf dem sich die Mitgliedsstaaten nur mit Sicherheits- und Verteidigungsfragen beschäftigen. Die Regierung in Paris bestellt schon das diplomatische Terrain in den europäischen Hauptstäten. „Die bilateralen Kontakte des Präsidenten sind derzeit zahlreich“, heißt es im Élysée.
Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat grundsätzlich Sympathien für Macrons Initiative, gleiches gilt für den ohnehin frankophilen Ratspräsidenten Michel. Doch die Diskussion erfordert ein Fingerspitzengefühl, das man von Macron nicht unbedingt erwarten kann – im April stimmen die Franzosen über seine Wiederwahl ab.
Je stärker Paris auf europäische Eigenständigkeit dringt, desto mehr Widerstand erzeugt es. Vor allem die Osteuropäer hegen eine tiefe Skepsis gegen Abnabelungsversuche von den USA. In einigen EU-Hauptstädten wird die Aukus-Affäre primär als „kommerzielle Angelegenheit“ zwischen Frankreich und Australien betrachtet.
Zwar sehen auch die Balten und die Polen, dass die Amerikaner unter dem Eindruck der wachsenden ökonomischen, technologischen und militärischen Macht Chinas ihre Außen- und Sicherheitspolitik stärker auf den pazifischen Raum ausrichten. Aber die Osteuropäer wollen mit überstürzten Reaktionen den USA nicht noch weitere Gründe liefern, sich von der EU abzuwenden.
Beziehung zwischen EU und Nato „intensivieren“
Macron bemühte sich bei seiner Ankunft auf dem Gipfel daher, den Blick nach vorn zu richten. Die gemeinsame Geschichte mit den Amerikanern sei bedeutender als die derzeitigen Spannungen, betonte er. Beim G20-Treffen Ende des Monats in Rom werde er ein Gespräch mit US-Präsident Joe Biden führen.
„Ich denke, es ist die richtige Gelegenheit, um zu sehen, wie wir wieder aufeinander zugehen können“, sagte er. Schon zuvor hatte Macron deutlich gemacht, dass ein verteidigungspolitisches Zusammenrücken in der EU kein Gegensatz zur Allianz mit Washington und der Nato sei.
Aber auch das hatte Macron gesagt: Europa müsse bei der Verteidigung seiner Interessen „aufhören, naiv zu sein“: „Die USA konzentrieren sich seit nun etwas mehr als zehn Jahren sehr auf sich selbst und haben strategische Interessen, die sich in Richtung China und Pazifik umorientieren.“
So unverblümt würde sich Kommissionschefin von der Leyen nicht ausdrücken, obwohl sie die Analyse im Kern teilt. Von der Leyen will den Eindruck vermeiden, dass die verteidigungspolitischen Ambitionen der Europäer auf eine Schwächung der Nato hinauslaufen könnten.
Kurz vor dem Gipfel telefonierte sie mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, immer wieder treffen sich die beiden auch zu gemeinsamen Abendessen. Von der Leyen kennt und schätzt Stoltenberg aus ihrer Zeit als deutsche Verteidigungsministerin.
Die Kommissionschefin kündigte an, die Kooperation zwischen der EU und der Nato zu „intensivieren“. Dazu zählt eine gemeinsame Erklärung, in der sich die beiden Organisationen ihre Zusammenarbeit zusichern wollen.

Von Kanzlerin sind bei diesem Gipfeltreffen keine Impulse zu erwarten.
2018 hatte es eine solche Erklärung von EU und Nato zuletzt gegeben, diese soll nun überarbeitet und an veränderte Realitäten angepasst werden. Für von der Leyen, Macron und Michel liegt der Wert einer engen Abstimmung mit Stoltenberg vor allem darin, den Sorgen der Osteuropäer zu begegnen, dass mehr EU weniger Nato bedeuten könnte. Eine Stärkung des europäischen Pfeilers stärke die Nato insgesamt, so die Parole.
Aus dem Élysée-Palast heißt es, das Aukus-Bündnis sei für die Europäer „ein Signal, dass für sie der grundlegende Moment gekommen ist, ihre Verantwortung voll und ganz wahrzunehmen“.
Konkret bedeutet das: eine engere strategische Abstimmung beim Blick auf geopolitische Herausforderungen und Krisenherde, eine noch stärkere Kooperation bei Rüstungsprojekten und eine gemeinsame Eingreiftruppe, die auch tatsächlich einsatzfähig ist.
Frankreich treiben dabei nicht nur Sorgen vor einem Bedeutungsverlust in neuen geostrategischen Arenen wie dem Pazifikraum um, sondern auch sicherheitspolitische Fragen in direkter Nachbarschaft der EU. Das betrifft insbesondere den Nahen Osten und Nordafrika, aber auch den westlichen Balkan – Regionen, in denen sich die USA künftig stärker zurückhalten könnten.
Vor diesem geopolitischen Hintergrund diskutierten die Staats- und Regierungschefs am zweiten Tag des Gipfels über die Beitrittsperspektiven für Westbalkanstaaten. Bundeskanzlerin unterstrich das Interesse Europas daran, „dieses Gebiet in das der EU zu integrieren“. Europa sei gegenüber diesen Ländern in der Pflicht.
Große Herausforderungen für die EU
Merkel weiß: Gerade nach dem Afghanistan-Debakel ist die Verlockung für die Europäer groß, sich von der Welt abzuwenden. Doch die Herausforderungen für die EU werden nicht deshalb geringer, weil die Europäer ihrer überdrüssig sind.
Wenn die EU „die Probleme vor unserer eigenen Haustür nicht lösen können“, wirke sich das auch auf die internationale „Glaubwürdigkeit“ Europas aus, mahnte die Kanzlerin.
Die mangelnde Glaubwürdigkeit der EU ist allerdings auch eine Folge mühsamer Entscheidungsprozesse und innerer Blockaden. Frankreich pocht deshalb darauf, dass die EU zunächst eigene Reformen anstößt, bevor sie neue Mitglieder aufnimmt. Für die Regierung in Paris liegt die Priorität zunächst auf der Stärkung der bestehenden Union, nicht auf einer Erweiterung.
Peter Wittig, der bis 2018 deutscher Botschafter in Washington war und jetzt an der Georgetown University lehrt, sieht die Europäer vor enormen Herausforderungen stehen: „Die nackte, unbequeme Wahrheit ist, dass die EU ihre eigene Sicherheit ohne die USA nicht gewährleisten kann“, sagt er. Zugleich warnt der frühere Diplomat vor unrealistischen Erwartungen. „Eine integrierte europäische Armee wird es nicht geben, es gibt ja nicht einmal eine für die Nato.“
Auch Wittig ist der Meinung, dass Europa mehr Verantwortung in seiner Nachbarschaft übernehmen müsse: „Die Amerikaner werden das nicht mehr für uns tun. Washington ist auf den Pazifik fixiert.“ Die Interessensabwägung des Weißen Hauses, die Aukus zugrunde lag, zeige das sehr deutlich: „Einen strategischen Kontrapunkt gegen China zu setzen ist den Amerikanern wichtiger, als auf die Empfindlichkeiten ihrer europäischen Partner Rücksicht zu nehmen“, sagt Wittig.
Die entscheidende Frage wird sein, ob die neue Bundesregierung die französische Initiative für mehr europäische Eigenständigkeit aufgreift. Sollte es zu einer Ampel-Koalition kommen, würde sie mit der SPD und den Grünen von zwei politischen Kräften dominiert, die traditionell eher rüstungsskeptisch sind. Allerdings dürfte es den Parteispitzen leichter fallen, ihre Basis von einer Aufstockung des Verteidigungsausgaben zu überzeugen, wenn es um die Stärkung der EU als um die Erfüllung von Nato-Zielen geht.
Wittig sieht Berlin in einer Bringschuld, auch weil Deutschland im deutsch-französischen Verhältnis zuletzt wenig Konstruktives zustande gebracht habe: „Die neue Bundesregierung muss aus der bisherigen Verweigerungshaltung gegenüber Macron herauskommen, ohne Chimären wie einer EU-Armee hinterherzulaufen.“
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