EU-Industriestrategie Europas „Mr. Fix-it“ plant die Chipoffensive und ringt mit Vestager

Die Industriestrategie von Binnenmarktkommissar Breton passt der Dänin Vestager nicht.
Brüssel, Berlin, München Der Spitzname schmeichelt ihm natürlich: „Mr. Fix-it“. Und ganz besonders dürfte Thierry Breton die Pointe gefallen, dass er diesen Titel dem marktliberalen „Wall Street Journal“ zu verdanken hat, wo er doch von ordnungspolitischer Zurückhaltung nicht allzu viel hält.
Breton gibt lieber den besagten Macher, er inszeniert sich als oberster Krisenmanager der EU. Die Impfstoffbeschaffung hat der französische Binnenmarkt-Kommissar an sich gerissen, er hat Fabriken inspiziert, Pharmahersteller unter Druck gesetzt. Das Ergebnis ist, dass Europas Impfkampagne endlich Fahrt aufnimmt. So jedenfalls sieht es Breton.
Und der Kommissar denkt schon weiter: An sein nächstes Projekt, eines, das noch größer, noch komplexer ist. Er will die Lehren aus der Coronakrise ziehen, in der erst Masken und Schutzkleidung knapp waren und jetzt ein Mangel an Mikrochips herrscht.
Breton will Lieferketten umlenken, die EU unabhängiger von Anbietern aus dem Ausland machen. Für den Franzosen ist klar: Wenn Europa die Produktion in Schlüsselbranchen nicht ausbaut, wird es im Wettbewerb mit China und den USA den Anschluss verlieren.
Es sei „wichtig, zu führen und nicht hinterherzulaufen“, sagte er nach einem Treffen mit Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier in Berlin. Die europäische Halbleiterindustrie soll deshalb gestärkt, aber auch große Anbieter aus den USA und Asien nach Europa gelotst werden. Jedenfalls wenn diese bereit sind, auch in Forschung und Entwicklung zu investieren, wie Altmaier betonte: Europa wolle „nicht nur verlängerte Werkbank“ sein.
Breton will mit Subventionen zu Investitionen verleiten
Am Freitag geht es für Breton weiter: In Brüssel will sich der Kommissar mit Intel-Chef Pat Gelsinger treffen und eine Videokonferenz mit dem taiwanischen Unternehmen TSMC abhalten. Auch mit Samsung sollen Gespräche geplant sein. Breton will die wichtigsten Halbleiterproduzenten der Welt zu Investitionen in Europa verleiten – wenn nötig mit üppigen Subventionen.
Doch nicht alle sind von Bretons industriepolitischem Schaffensdrang begeistert. Vor allem Margrethe Vestager, die Vizepräsidentin der EU-Kommission, warnt vor zu viel Staatsgläubigkeit, sie ist das liberale Korrektiv in der Brüsseler Behörde.
Was sie von staatlichen Lenkungsfantasien hält, machte die Dänin kürzlich im Handelsblatt-Interview deutlich: „Wir sollten es den Chinesen überlassen, Chinesen zu sein.“ Statt sich „Elemente des chinesischen Systems herauszugreifen“, sollte sich Europa auf die Stärken seines offenen Wirtschaftsmodells besinnen. Nicht auf Dirigismus setzt Vestager, sondern auf Marktkräfte, auf die Dynamik des Wettbewerbs.
Mit Breton, der seine Gedanken in einer überarbeiteten Industriestrategie bündeln will, geriet die Vizechefin der Kommission deshalb immer wieder heftig aneinander. Es geht um einen Grundsatzkonflikt, der fast so alt ist wie die EU selbst. Wie viel Markt braucht Europa, wie viel staatliche Intervention?
Die nordischen Länder stehen einer aktiven Industriepolitik skeptisch gegenüber, in Frankreich hat sie lange Tradition. Deutschland hängt irgendwo dazwischen. CDU-Mann Altmaier hegt zwar große Sympathien für den französischen Ansatz, trifft aber in seiner eigenen Partei auf starke Widerstände.
Zu große Differenzen mit Vestager
In den vergangenen Tagen brach der alte Konflikt über die Balance zwischen Staat und Markt erneut auf. Breton wollte seine neue Industriestrategie eigentlich diese Woche vorstellen, musste den Termin dann aber auf den 5. Mai verschieben. Zu groß waren die Differenzen mit Vestager.
Inzwischen gibt es ein Kompromisspapier, eine Zusammenfassung liegt dem Handelsblatt vor. Wichtigstes Element ist die Weiterentwicklung des „Ökosystem-Ansatzes“. Die EU will Schlüsselbranchen identifizieren, in denen starke Abhängigkeiten bestehen, und deren Wertschöpfungsketten stärker nach Europa verlagern. Dafür solle es einen „gezielten Einsatz von Kapitalhilfen“ geben. Im Gesundheitssektor strebt Europa sogar nach Autonomie.
„Breton will tun, was nationale Regierungen tun können“, sagt Hosuk Lee-Makiyama, Leiter des European Centre for International Political Economy in Brüssel. „Er möchte europäische Fördermittel nutzen, um Industrien auf EU-Ebene umzustrukturieren, ähnlich wie China oder die USA über Provinz- und Staatsgrenzen hinweg agieren.“
Dafür will Breton künftig noch stärker auf das Instrument für „wichtige Projekte im gemeinsamen europäischen Interesse“ setzen, IPCEI im Brüssler Verwaltungsjargon. Dieses ermöglicht es, mit Fördermitteln stärkere Investitionsanreize zu setzen, als es die EU-Beihilferegeln sonst erlauben.
Vestager bleibt zurückhaltender. Grundsätzlich ist sie sich mit Breton aber darin einig, dass die EU stärker Zukunftsindustrien fördern muss, in denen sie derzeit stark von Asien oder den USA abhängig ist. Das gilt besonders für die Chipindustrie.
Förderprogramm für Halbleiterstandort Europa
Gemeinsam haben Vestager und Breton das Ziel ausgegeben, den Weltmarktanteil der EU bei der Chip-Produktion auf 20 Prozent zu verdoppeln. Europa war einst ein wichtiger Produktionsstandort für Mikroprozessoren, doch inzwischen produziert die Branche überwiegend in Asien, die wichtigsten Chipdesigner sitzen in den USA. Eine Entwicklung, die sich durch Übernahmen weiter verstärkt: So will die taiwanische Firma Global Wafers den Münchener Herstellers Siltronic kaufen.
Erste Initiativen, diesen Trend zu drehen, laufen schon. Ende vergangenen Jahres haben Deutschland, Frankreich und die EU-Kommission auf höchster Ebene vereinbart, den Halbleiterstandort Europa über ein massives Förderprogramm zu stärken.
Seither arbeitet Altmaier gemeinsam mit seinem französischen Kollegen Bruno Le Maire und anderen EU-Staaten daran, Industriekonsortien zu schmieden. In Deutschland haben Unternehmen bereits mehr als 50 Projektkonzepte eingereicht, wie es im Bundeswirtschaftsministerium heißt.
Angesichts der dort winkenden Subventionen hoffen Altmaier und Breton auch auf ein großes Interesse nichteuropäischer Unternehmen. Doch wird die EU dafür noch einiges an Überzeugungsarbeit leisten müssen. TSMC habe „derzeit keine Pläne“, nach Europa zu expandieren, ließ das Unternehmen diese Woche wissen. Intel ist aufgeschlossener. „Die EU hat starke Vorschläge für eine heimische Halbleiterindustrie vorgelegt“, sagte Konzernchef Gelsinger kürzlich. Einige Branchenexperten fürchten allerdings, dass es den Amerikanern vor allem darum geht, Subventionen abzugreifen.
Chipmangel betrifft etliche Branchen
Eines ist klar: Europa steht unter Zeitdruck, denn der neue US-Präsident Joe Biden ist mit einem 50 Milliarden Dollar schweren Paket für die Chipindustrie vorgeprescht. „Amerika betrachtet den Lieferengpass bei den Halbleitern inzwischen als Bedrohung der nationalen Sicherheit“, sagt Christian Schuh, Partner der Beratungsgesellschaft Boston Consulting Group. Daher dürfe sich Europa jetzt nicht in langem Gerangel verlieren. „Es gilt, jetzt zügig zu entscheiden und großzügig zu fördern“, so der Halbleiterexperte.
Die Chiphersteller kommen seit Monaten mit der Produktion kaum hinterher. Weltweit stehen Autofabriken still, weil Bauteile fehlen. Im ersten Quartal produzierten die Autobauer deshalb 1,3 Millionen weniger Fahrzeuge als geplant, so die Marktforscher von IHS Markit. Inzwischen greift der Chipmangel auf andere Branchen über. Handy- und Computerhersteller sind betroffen, selbst für Toaster und Waschmaschinen werden die Chips knapp. Damit drohen höhere Preise. „Die Nachfrage ist dramatisch gestiegen, nicht aber das Angebot“, sagt Glenn O’Donnell, Halbleiterexperte von Forrester Research.
Investitionen in neue Fabriken ergeben daher Sinn. Er rechne damit, dass die Branche auf absehbare Zeit um rund zehn Prozent jährlich wachse, sagt Thomas Caulfield, Chef des Chipherstellers Globalfoundries. Zu Beginn der Pandemie sei er noch von lediglich fünf Prozent ausgegangen. Der Branchenverband World Semiconductor Trade Statistics, kurz WSTS, erwartet, dass der Umsatz dieses Jahr weltweit um elf Prozent auf 488 Milliarden Dollar zulegen wird.
Analyst O’Donnell glaubt, dass es die Chipindustrie mit der Globalisierung zu weit getrieben hat. „Die müssen das Rad ein Stück weit zurückdrehen“, empfiehlt der Amerikaner. Es sei nötig, wieder näher an die Kunden heran zu rücken. Daran müssten die Regierungen ein großes Interesse haben: „Es senkt die eigene Verwundbarkeit.“
Mehr: So will die EU bis 2030 technologisch zur Weltspitze aufschließen.
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