EU-Spitze in Ankara Von der Leyen: „Türkei zeigt Interesse an konstruktiver Zusammenarbeit mit EU“

Die EU und die Türkei sind politisch zerstritten, ökonomisch jedoch stark verflochten.
Istanbul, Brüssel Die Türkei hat den Europäern eine Menge Ärger bereitet, Ursula von der Leyen hätte viele Gründe, Kritik zu üben. Trotzdem reiste die EU-Kommissionspräsidentin gemeinsam mit Ratspräsident Charles Michel am Dienstag für ein Treffen mit Staatschef Recep Tayyip Erdogan nach Ankara. Das Ziel ist klar: Die Europäer wollen versuchen, die Türkei mit konkreten Angeboten wieder zu einer konstruktiveren Politik zu bewegen.
Gespräche über eine Ausweitung der bestehenden Zollunion standen deshalb auf der Agenda, auch weitere Finanzhilfen für die Unterbringung von Flüchtlingen in der Türkei sollten besprochen werden. Mit wirtschaftlichen Perspektiven einen Neubeginn in Gang zu bringen, Möglichkeiten einer vertieften Kooperation auszuloten, nachdem die Beziehungen zuletzt schwer gelitten haben – das ist die Idee.
Doch wie sehr es knirscht im Verhältnis mit der Türkei, zeigte sich gleich am Anfang des Gesprächs. Präsident Erdogan hatte neben sich nur einen Sessel reserviert - offenkundig für Michel. Auf einem Video ist zu sehen, wie von der Leyen irritiert stehen bleibt und dann auf einem Sofa Platz nimmt. Als wäre sie ein Staatsgast zweiter Klasse. Der kleine Affront ist symptomatisch für die europäische-türkische Beziehungskrise.
Streitpunkte gibt es viele: die Verfolgung von Dissidenten in der Türkei, den Streit um Erdgasreserven im Mittelmeer, den Krieg in Syrien. Erdogan hat in Brüssel nur noch wenige Freunde - und schien lange auch nicht daran interessiert, die Partnerschaft zu pflegen.
Erst im März hatte er die Europäer mit dem Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen gegen sich aufgebracht. Teile seiner Partei AKP sahen durch das Abkommen „traditionelle Familienwerte“ gefährdet.
Die EU-Spitzen und der türkische Präsident hatten sich also einiges zu sagen. Von einer „offenen Diskussion“, berichtete Michel nach dem Gespräch. „Die Türkei zeigt Interesse an einer konstruktiven Zusammenarbeit mit der EU“, ergänzte von der Leyen zwar. Menschen- und Frauenrechte seien aber nicht verhandelbar.
Solange Erdogan regiert, wird das Verhältnis zur Türkei schwierig bleiben: Diese Erkenntnis hat sich sowohl in Brüssel als auch in Berlin durchgesetzt. „Es ist richtig, gemeinsame Vorhaben auszuloten“, sagt Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion.
„Allerdings ist mit Erdogan nur eine punktuelle Zusammenarbeit möglich, strukturell ist er gegenüber der EU kooperationsunfähig.“ Der Grund dafür sei, dass es einen „unauflösbaren Widerspruch“ gebe zwischen europäischen Werten und Erdogans Interesse am Machterhalt. Für diesen beschwöre er immer wieder äußere Feindbilder herauf.
Ausbau der Handelsbeziehungen im Interesse Europas
Entsprechend groß ist das Misstrauen: Bevor die Zollunion ausgebaut werden könne, müsse sichergestellt werden, dass die Türkei ihre bestehenden Verpflichtungen einhält, fordert Schmid. „Es muss zunächst darum gehen, die Vertrauensbasis wieder aufzubauen.“ Auch David McAllister, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des EU-Parlaments, sieht in der Türkei eine „besorgniserregende“ Entwicklung.
„Anreize für einen kooperativen Weg zu schaffen“ hält er dennoch für den richtigen Ansatz. Dazu müssten „Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Zollunion“ beseitigt werden. „Parallel dazu geht es dann darum zu prüfen, wie die Modernisierung der Zollunion aussehen könnte“, sagt der CDU-Politiker.
Der Ausbau der Handelsbeziehungen zur Türkei wäre auch im Interesse Europas. „Eine Erweiterung der Zollunion ist eine Win-win-Situation, von der Europa nicht nur wirtschaftlich, sondern auch geopolitisch profitieren würde“, sagt Markus Slevogt, Präsident der AHK Istanbul.
Wirtschaftsvertreter sind der Auffassung, dass die beiden großen Verhandlungsthemen – politische Verständigung und wirtschaftliche Zusammenarbeit – nicht separat betrachtet werden dürften. Vielmehr könnte eine vertiefte ökonomische Partnerschaft die Grundlage dafür legen, auch politisch und gesellschaftlich wieder zusammenzuwachsen.
Dass die Türkei ein wichtiger Wirtschaftspartner der EU ist, ist unbestritten. Wichtige Teile für die Automobilindustrie, Maschinen und die Chemiebranche stammen aus der Türkei. Im Jahr vor der Pandemie führte die Türkei Güter im Wert von 63,9 Milliarden US-Dollar aus der EU ein, der Wert der Ausfuhren der Türkei in die EU betrug im selben Zeitraum 77,9 Milliarden Dollar. 81,8 Prozent der türkischen Exporte sind zollfrei, während dies nur auf 71,8 Prozent der europäischen Exporte in die Türkei zutrifft. Die EU hat also tatsächlich selbst ein Interesse daran, die Zollunion auszubauen.
Auch strategisch könnte eine wirtschaftliche Annäherung Sinn ergeben. Schließlich sichert sich die EU mit dem Zollabkommen auch Zugänge auf asiatische Märkte, die bisher vor allem mit der Türkei zusammenarbeiten. AHK-Istanbul-Präsident Markus Slevogt fallen noch mehr Gründe ein, die eine vertiefte wirtschaftliche Kooperation sinnvoll erscheinen lassen.
„Bei den Themen Flüchtlinge, Geopolitik, aber mit Hinblick auf den wichtigen Energiekorridor durch die Türkei sowie als Sprungbrett für Exporte europäischer Firmen aus der Türkei in die Region muss die EU sicherstellen, dass die Türkei weiter an sie angebunden bleibt“, erklärt er.
Wirtschaft kann helfen
Gerade wegen der politischen Probleme sei die wirtschaftliche Kooperation attraktiv. „Der beste gemeinsame Nenner, Gespräche zu führen, ist die Wirtschaft“, ist Slevogt überzeugt. „Hier kann man gemeinsame Interessen verwirklichen und darauf hinarbeiten, dass sich aus der wirtschaftlichen Kooperation positive Effekte für die politische Zusammenarbeit entwickeln.“
Die AHK Istanbul hat gemeinsam mit den Türkei-Vertretungen der Handelskammern aus anderen EU-Staaten ein Positionspapier zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit und einer erweiterten Zollunion erarbeitet.
Darin kritisieren die Wirtschaftsvertreter, dass die Bestimmungen des 1995 verhandelten Zollabkommens veraltet seien. Sie schlagen vor, das Abkommen graduell auszubauen.
So sollen erst für Dienstleistungen und E-Commerce die Zollschranken fallen, später auch für landwirtschaftliche Produkte. „Eine revitalisierte Zollunion könnte die Partnerschaft zwischen der EU und der Türkei stärken“, glauben die Vertreter der Wirtschaft.
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Wie sehr kann man die Augen verschließen, nur um vielleicht Profit aus einem kleinen Geschäftchen zu schlagen? Es ist mir unbegreiflich, wie man einem islamistischem Diktator wie Erdogan, der die EU vor ihrer eigenen Haustür mit Flüchtlingen erpresst, auch nur einen Schritt entgegen kommen kann.