Euro-Stabilitätspakt Abschied von Maastricht: EU-Schuldenregel birgt Zündstoff für Ampel-Verhandlungen

Die EU debattiert über eine Reform der Schuldenregeln.
Berlin, Brüssel, Rom, Paris September 2021: Olaf Scholz steht auf der Dachterrasse der deutschen Botschaft in Paris, hinter ihm ragt der Eiffelturm in den blauen Himmel. Der SPD-Kanzlerkandidat kommt gerade von einem Gespräch mit Emmanuel Macron.
Scholz redet viel über sein gutes Verhältnis zum französischen Präsidenten, bei einem Punkt wird er aber wortkarg. Eine Neufassung der EU-Schuldenregeln sei nicht notwendig, macht der Bundesfinanzminister deutlich. In der Pandemie habe man gesehen, dass die sogenannten Maastricht-Kriterien bereits „sehr große Flexibilität“ ermöglichten.
An dieser Position hält Scholz fest, auch jetzt noch, da er zum Kanzler in spe avanciert ist. Doch der Umgang mit der Staatsverschuldung in Europa dürfte ihm noch vor einige Probleme stellen. Allen voran mit Frankreich, das im Januar die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt und sich eine Reform der in den 1990er-Jahren festgeschriebenen Regeln wünscht, wobei es viel Unterstützung aus der Brüsseler EU-Kommission erhält.
Während sich die mögliche Ampelkoalition in Berlin noch sortiert und um ihren finanzpolitischen Kurs ringt, schiebt die EU-Kommission eine Debatte über den Stabilitätspakt an. Die „Konsultationen“, so viel ist klar, sollen den Weg zu einer Reform der Schuldenregeln ebnen.
In einer Analyse zur wirtschaftlichen Lage, die die Kommission am Dienstag präsentieren will, warnen die EU-Beamten vor den „hohen wirtschaftlichen Kosten“ einer verfrühten Sparpolitik. Ein Entwurf des 14-seitigen Papiers liegt dem Handelsblatt vor.
Unerreichbares Schuldenziel
Der Abbau der in der Pandemie stark gestiegenen Staatsschulden sei zwar eine „zentrale Herausforderung“, um „Puffer aufzubauen“, schreiben die Kommissionsexperten. Der Konsolidierungsprozess müsse aber „auf nachhaltige und wachstumsfreundliche Weise“ gestaltet werden.
Für die Kommission ist die Schuldendebatte eine Gratwanderung. Kaum ein europapolitisches Thema ist emotional so aufgeladen. Die Euro-Länder sind gespalten. Neben Frankreich fordern auch Länder wie Italien, Spanien und Griechenland, die starren Regeln zu lockern. Dagegen stemmen sich die „sparsamen vier“: Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande.
Ob und wie der Streit gelöst werden kann, dürfte entscheidend von der Position der künftigen Bundesregierung abhängen. Grüne und SPD stehen einer Reform offen gegenüber, die FDP dagegen fürchtet einen Dammbruch. Allerdings halten etliche Länder die Maastricht-Kriterien schon lange nicht mehr ein.
Einflussreiche Ökonomen fordern daher, den Stabilitätspakt der veränderten Lage anzupassen. Zuletzt hatte sich IWF-Chefvolkswirtin Gita Gopinath im Handelsblatt-Interview dafür ausgesprochen, die EU-Schuldenregeln zu reformieren.
Scholz’ Formel, dass der Pakt in seiner bestehenden Form genug finanzpolitischen Spielraum böte, klingt für manche Experten wenig überzeugend: „Eine flexible Interpretation ist wichtig, reicht aber nicht, um das Investitionsproblem zu lösen“, sagt Guntram Wolff, Direktor der Brüsseler Wirtschaftsdenkfabrik Bruegel.
Wolff spielt auf EU-Schätzungen an, dass jährliche Investitionen von mehr als 1000 Milliarden Euro nötig sind, wenn die EU ihre Klimazusagen einhalten soll. Zum Vergleich: Zuletzt betrug die Gesamtsumme der Investitionen in Europa nur 683 Milliarden Euro pro Jahr. Wolffs Vorschlag lautet: Ausgaben, die der klimafreundlichen Transformation der Wirtschaft dienen, sollen von den Schuldengrenzen ausgenommen werden.
In der Kommission gibt es offenbar Sympathien für diese Idee. „Die Förderung umweltfreundlicher, digitaler und resilienzfördernder öffentlicher Investitionen könnte angesichts der langfristigen Herausforderungen für unsere Wirtschaft besondere Aufmerksamkeit verdienen“, heißt es in der Lageanalyse der Behörde.
Das werden vor allem die Franzosen gerne hören. Finanzminister Bruno Le Maire erklärte seinen EU-Kollegen neulich bei einem Treffen in Slowenien, einige der europäischen Schuldenregeln seien „offenkundig obsolet“. Das Finanzministerium in Paris betont zwar, dass Frankreich an der Drei-Prozent-Grenze festhalten wolle. Allerdings wünscht es sich, dass grüne Investitionen nicht auf dieses Kriterium angerechnet werden. Beim 60-Prozent-Ziel werden Le Maires Beamte noch deutlicher: Dieses entspreche nicht mehr „der ökonomischen Realität in der Euro-Zone“.
Paris spielt das Anliegen einer Maastricht-Reform über Brüssel. Zunächst sollen der Konsultationsprozess der Kommission und die Vorschläge von Experten abgewartet werden. Die Hoffnung im Élysée lautet, dass der Reformprozess auf „möglichst friedvolle Weise“ gelingen könne.
Unklar ist, welchen Stellenwert die Debatte während der französischen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 einnehmen wird. In Pariser Regierungskreisen wird darauf verwiesen, dass die Maastricht-Reform keine Priorität der Ratspräsidentschaft sei. Wegen der Aussetzung der Schuldenregeln bis Ende 2022 gebe es ja auch noch einen zeitlichen Puffer, um zu Ergebnissen zu kommen.
Die Schuldengrenzen wurden Ende der 80er-Jahre entworfen. Damals wurde ein gehobener Mittelwert der tatsächlichen Verschuldung der potenziellen Euro-Länder ermittelt und diese Werte mit dem damaligen Konjunkturumfeld verknüpft.
Konkret hieß das: Es wurde ein Wachstum von drei Prozent und eine Inflationsrate von zwei Prozent unterstellt. Doch die Welt entwickelte sich anders. Das Wachstum wurde schwächer, ebenso die Inflation. „Die EU-Schuldenregeln haben sich überholt, weil die Welt von heute eine fundamental andere ist als vor gut 30 Jahren“, sagt Bert Rürup vom Handelsblatt Research Institute.
Auf die Finanz- und Coronakrise haben viele Euro-Staaten mit Rekord-Ausgaben reagiert. Viele Staaten sind deshalb heute nicht mit 60 Prozent, sondern doppelt so hoch oder noch höher verschuldet. Beispiel Italien: Die Staatsverschuldung liegt mit 155,6 Prozent der Wirtschaftsleistung so hoch wie noch nie. Im Euro-Raum steht nur Griechenland noch schlechter da.
Finanzminister Daniele Franco präsentierte jüngst die Finanzplanung für die kommenden Jahre: Demnach soll die Verschuldung auch im Jahr 2024 noch immer bei 146,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen. Vor der Coronakrise lag dieser Wert bei 134,8 Prozent. Schon mehrfach forderte die italienische Regierung, den Stabilitätspakt zu reformieren, um das Wachstum nicht abzuwürgen. Wegen der Herausforderung des Klimawandels und der Pandemie falle es schwer, „bei Regeln zu bleiben, die wir so noch vor zwei Jahren hatten“, betont Premier Mario Draghi.
Auch nach Ansicht von Experten wie Rürup ergeben Schuldengrenzen nur dann Sinn, wenn die Ziele glaubwürdig erreichbar sind und Verstöße konsequent sanktioniert werden können. Eine buchstabengetreue Verpflichtung des Regelwerks würde die EU-Mitgliedstaaten auf lange Zeit hinaus verpflichten, hart zu sparen.
Im Falle Italiens beispielsweise liefe dies auf einen jährlichen Schuldenabbau von fünf Prozentpunkten hinaus. „Würde man die EU-Schuldenregeln von heute konsequent anwenden, hätten sie Sparprogramme zur Folge, unter denen die Länder Südeuropas zugrunde gehen würden“, so Rürup.
Scholz teilt diese Überzeugung eigentlich. Seine abwehrende Haltung zu einer Reform ist vor allem taktisch motiviert, um die unterschiedlichen Meinungen in einer künftigen Ampel-Regierung auszutarieren. Scholz selbst hat die Notwendigkeit über die alten Regel neu nachzudenken, längst erkannt.
Das Grundsatzabteilung im Bundesfinanzministerium arbeitet schon seit Monaten an Konzepten, wie eine Reform des Stabilitätspaktes aussehen könnte. Durchgespielt wird dabei unter anderem die tatsächlichen Zinsausgaben für Schulden stärker zu berücksichtigen, anstatt wie bisher rein auf Verschuldungszahlen gemessen an der Wirtschaftsleistung zu blicken.
Gewerkschaften und Arbeitgeber einig
Das Thema gewinnt jedenfalls deutlich an Fahrt. Auch die im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) vertretenen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sowie andere zivilgesellschaftliche Organisationen haben einen Reformvorschlag erarbeitet. Er liegt dem Handelsblatt vor.
„Eine Wiedereinführung der alten Schuldenregeln hätte dramatische Folgen für die wirtschaftliche Erholung der EU und würde den europäischen Zusammenhalt gefährden“, warnt der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann. Deshalb seien jetzt schnelle „konkrete Schritte notwendig, die die Mitgliedstaaten auch ohne langwierige Vertragsänderungen vereinbaren können“.
Konkret schlagen die Sozialpartner drei Punkte vor. Erstens sollten öffentliche Investitionen von der Schuldenregel ausgenommen werden. Zweitens sollen die Mitgliedsstaaten mehr Flexibilität beim Schuldenabbau erhalten. Statt starrer Abbaupläne brauche es längere, länderspezifische und flexiblere Abbaupfade. Drittens müssten die Schuldenregeln weniger konjunkturverstärkend ausgestaltet sein.
Auch das Europarlament schaltet sich in die Diskussion ein. „Mit der Heiligsprechung der bestehenden Regeln schaden wir uns selbst“, mahnt Grünen-Finanzexperte Sven Giegold. Denn die Kommission brauche Kriterien, die sie auch anwenden könne, um Reformen in den Mitgliedsstaaten durchzusetzen. CDU-Politiker Daniel Caspary hält dagegen: „Nur weil man sich nun weiter strecken muss, um das Ziel zu erreichen, wird das Ziel dadurch nicht plötzlich falsch.“ Er sehe nicht, „wieso die Obergrenze von 60 Prozent aufgeweicht werden sollte“.
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