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Europa-Chef Kammer im Interview IWF fordert mehr staatliche Investitionen: „Deutschland kann mehr tun – und sollte mehr tun“

Die wirtschaftliche Erholung in Europa stockt. IWF-Europa-Direktor Alfred Kammer warnt daher vor einem verfrühten Sparkurs und regt eine Debatte über die deutsche Schuldenbremse an.
14.04.2021 - 15:00 Uhr 1 Kommentar
„Die EU-Schuldenregeln müssen reformiert werden. Sie sind zu komplex geworden“, meint der Europa-Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF). Quelle: IWF
Alfred Kammer

Die EU-Schuldenregeln müssen reformiert werden. Sie sind zu komplex geworden“, meint der Europa-Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF).

(Foto: IWF)

Der Europa-Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF), Alfred Kammer, spricht sich angesichts der schleppenden Konjunkturerholung in Europa für mehr staatliche Investitionen und eine Reform des europäischen Stabilitätspakts aus. Gerade Deutschland „kann mehr tun – und sollte mehr tun“, sagte der IWF-Experte dem Handelsblatt.

„Unser wichtigster Rat an die Regierungen ist: Tut alles, um die Struktur der Wirtschaft während der Krise zu erhalten, damit sie nach Corona wieder wachsen kann“, betonte Kammer, der einer der hochrangigsten deutschen Ökonomen bei der Washingtoner Finanzinstitution ist. Wachstum sei ein entscheidender Faktor für die Tragbarkeit von Schulden. 

Ausdrücklich warnt der IWF vor einem verfrühten Sparkurs: „Noch ist nicht die Zeit für Sparmaßnahmen, diese kommt erst nach der Krise“, so die Mahnung aus Washington. Der IWF empfehle, „in der jetzigen Lage lieber mehr Schulden zu machen als zu wenig“ – um zu verhindern, dass es zu bleibenden ökonomischen Schäden komme, sagte Kammer. Daher unterstützt der IWF auch die Pläne der EU-Kommission für eine Reform des europäischen Stabilitätspakts und regt eine Debatte über die deutsche Schuldenbremse an. 

„Die EU-Schuldenregeln müssen reformiert werden. Sie sind zu komplex geworden, das hat ihre Einhaltung erschwert“, erläuterte Kammer. Der IWF setzt sich für eine Regel ein, die sich an die veränderte Realität der Staatsfinanzen anpasst und das Zinsniveau stärker berücksichtigt: „Auf der einen Seite sind die Zinsen niedriger denn je, auf der anderen sind Schuldenberge höher als je zuvor“, so der IWF-Experte.

Dieser Realität gelte es, Rechnung zu tragen. In diesem Zusammenhang sei es „sicherlich sinnvoll, bei einer Reform der EU-Regeln auch die nationalen Vorgaben zu überprüfen.“

Lesen Sie hier das gesamte Interview:

Herr Kammer, Ihre Chefin, IWF-Direktorin Kristalina Georgiewa, sagt: „Impfpolitik ist Wirtschaftspolitik“. Wenn das so ist, steckt Europa dann nicht in gewaltigen Schwierigkeiten?
Die Unsicherheit bleibt groß, Impfungen müssen deshalb die oberste Priorität für politische Entscheidungsträger sein. Das Virus hat uns immer wieder mit Mutationen überrascht. Die Impfstoffproduktion muss erhöht und die Impflogistik verbessert werden, damit das Ende der Lockdown-Beschlüsse näher rückt.

Genau damit tun sich die Europäer schwer.
Das Ziel der EU-Kommission ist, dass bis zum Herbst 70 Prozent der erwachsenen Europäer geimpft sind. Wir glauben, dass das realistisch bleibt. Unsere Wachstumsprognose von 4,4 Prozent für die Euro-Zone im laufenden Jahr beruht auf der Annahme, dass dieses Ziel erreicht wird. 

Wo sehen Sie die größten Risiken für das Wachstum in Europa?
Die Lockdown-Schritte im ersten Quartal haben wir in unserer Prognose miteingerechnet. Neue Beschlüsse, wie sie derzeit etwa in Deutschland diskutiert werden, hingegen nicht. Das könnte das Wachstum abschwächen. Aber unsere Erfahrung zeigt inzwischen: Die Volkswirtschaften haben gelernt, mit Eindämmungsmaßnahmen zu leben, die ökonomischen Folgen haben sich mit der Zeit daher verringert.

Jenseits des Impfens: Wie bewerten Sie die Wirtschaftspolitik in der Pandemie?
Die wirtschaftspolitische Antwort auf die Coronakrise war im vergangenen Jahr sehr stark. Wir haben eine kräftige Unterstützung durch die Europäische Notenbank gesehen, auch fiskalpolitisch gab es starken Rückhalt, sowohl für Unternehmen als auch für Bürger. Das hat uns vor Pleitewellen und einem drastischen Anstieg der Arbeitslosigkeit bewahrt. Die Struktur der Wirtschaft ist erhalten geblieben. Genau das war das Ziel. Denn so ist sichergestellt, dass die Konjunkturerholung rasch einsetzen kann, wenn das Virus besiegt ist. Bleibende ökonomische Schäden, in der Größenordnung wie nach der globalen Finanzkrise von 2008, erwarten wir nicht.

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Die Prognosen für China und die USA sind deutlich besser als für Europa. Fällt die EU ökonomisch zurück?
Die Erholung in Europa ist langsamer als in den USA und in China, das ist richtig. Lockdown-Beschlüsse sind ein Grund dafür. Ein weiterer ist, dass die Krise europäische Länder ökonomisch besonders hart getroffen hat. Gerade Südeuropa ist stark vom Tourismus abhängig, der fast vollständig zum Erliegen gekommen ist. Und wir haben noch etwas beobachtet: In Ländern, in denen relativ viele Patienten in Krankenhäuser eingeliefert wurden und viele Tote zu beklagen waren, haben die Bürger von sich aus ihre Mobilität und ihre wirtschaftliche Aktivität eingeschränkt. Auch das schlägt sich in niedrigeren Wachstumszahlen nieder. 

„Lieber mehr Schulden machen, als zu wenig“

Sehen Sie die Gefahr, dass wir eine neue Schuldenkrise in Europa erleben?
Unser wichtigster Rat an die Regierungen ist: Tut alles, um die Struktur der Wirtschaft während der Krise zu erhalten, damit sie nach Corona wieder wachsen kann. Denn Wachstum ist ein entscheidender Faktor für die Tragbarkeit von Schulden. Ein weiterer ist das Zinsniveau, doch wir erwarten, dass die Zinsen niedrig bleiben. Daher empfehlen wir, in der jetzigen Lage lieber mehr Schulden zu machen als zu wenig – um zu verhindern, dass es zu bleibenden ökonomischen Schäden und einer dauerhaften Reduktion der wirtschaftlichen Leistungskraft kommt. 

Verstehen wir Sie richtig: Die Staaten sollen Geld ausgeben, um ihre Schuldenlast zu senken?
Wir dürfen jetzt das Wachstumspotenzial nicht beschädigen. Mit einem Prozent weniger BIP Potenzial gibt es dauerhaft rund ein Prozent weniger Staatseinnahmen und dem entsprechend schnell mehr Schulden. Noch ist nicht die Zeit für Sparmaßnahmen, diese kommt erst nach der Krise. Dann wird es darum gehen, die finanziellen Puffer wieder aufzubauen, die wir brauchen, um für die nächste Krise gerüstet zu sein. 

Die EU hat ein 750-Milliarden-Euro-Programm zur Krisenbekämpfung aufgelegt, aber fordert dafür auch Reformen. Auch mit Deutschland gibt es Diskussionen. Kann die Bundesrepublik noch mal zur Wachstumslokomotive in Europa werden?
Der deutsche Staat hat in der Krise an Unterstützung für Bürger und Wirtschaft viel geleistet und seinen finanziellen Spielraum gut genutzt, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie zu begrenzen. Wir begrüßen es, dass die Bundesregierung diesen Kurs auch weiterhin fortführt und wichtige Hilfsmaßnahmen bis zum Ende des Jahres verlängert hat. Aber es ist richtig, dass Deutschland mehr in Bildung, die Digitalisierung der Wirtschaft und soziale Infrastruktur investieren muss, um so das Wachstumspotenzial zu erhöhen. 

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Darauf weist der IWF seit längerer Zeit hin. 
Der EU-Wiederaufbaufonds ist für Deutschland eine gute Gelegenheit aufzuholen. Der deutsche Staat hat aber auch darüber hinaus genügend finanziellen Spielraum, um die Investitionen zu erhöhen. Deutschland kann mehr tun – und sollte mehr tun.

Staaten müssen nationale Schuldenregeln prüfen

Deutschlands Ausgaben werden vielleicht nicht durch den Finanzspielraum begrenzt, aber durch die Schuldenbremse. Derzeit gilt eine Ausnahmeregel, aber von 2023 an soll sie wieder eingehalten werden. Wäre es an der Zeit, die Regel abzuschaffen?
Es ist sehr gut, dass die Ausnahmeregel für Notlagen noch im kommenden Jahr genutzt wird. Aber auch mittelfristig sehen wir innerhalb der Schuldenbremse Spielraum für zusätzliche Investitionsausgaben. Trotzdem sollten die Vorgaben immer wieder überprüft werden wenn sich das finanzielle und wirtschaftliche Umfeld erheblich verändert, so wie derzeit. In Europa wird eine Reform der EU-Schuldenregeln diskutiert. Wir erwarten, dass in diesem Zusammenhang auch die Staaten ihre nationalen Schuldenregeln überprüfen, ob es Anpassungsbedarf gibt. Das wäre nur logisch, weil die nationalen Vorgaben häufig mit den europäischen zusammenhängen.

Sollte Deutschland also die Reform der Maastricht-Vorgaben nutzen, um die Schuldenbremse abzuschaffen?
Die EU-Schuldenregeln müssen reformiert werden. Sie sind zu komplex geworden, das hat ihre Einhaltung erschwert. Wir sind für eine Vorgabe, die Staatsausgaben und Schuldenanker zusammen betrachtet: Auf der einen Seite sind die Zinsen niedriger denn je, auf der anderen sind Schuldenberge höher als je zuvor. Dieser Realität müssen wir Rechnung tragen. Und in diesem Zusammenhang ist es sicherlich sinnvoll, bei einer Reform der EU-Regeln auch die nationalen Vorgaben zu überprüfen. 

Angesichts der hohen Schuldenstände hat sich der IWF für Steuererhöhungen ausgesprochen. Würde das nicht die wirtschaftliche Erholung gefährden?
Hier geht es nicht nur um die Haushaltskonsolidierung nach der Pandemie, wenn sich die wirtschaftliche Erholung als robust erwiesen hat, sondern auch darum in Maßnahmen zu investieren, die die Wirtschaft grüner, digitaler und sozial gerechter gestalten. Die Regierungen sollten bei der Konsolidierung der Haushalte vorsichtig vorgehen, egal ob es sich um mögliche Einsparungen im Haushalt oder um Steuererhöhungen handelt. 

Wie genau soll das gelingen?
Es wird in vielen Staaten durchaus Spielraum für eine Anhebung der Steuern geben, um Schulden abzubauen und gleichzeitig die Investitionsausgaben zu erhöhen. Die genauen Maßnahmen müssen von Staat zu Staat entschieden und so umgesetzt werden, dass sie keinen negativen Einfluss auf das Wirtschaftswachstum haben. 

Die Sorge vor einer Preisspirale wächst. Wie groß ist das Inflationsrisiko in der Euro-Zone?
In diesem Jahr wird es vorrübergehend höhere Inflationsraten geben. Das sind aber auch Nachholeffekte, nachdem die Inflation im vergangenen Jahr wegen der Krise gesunken war. Hinzu kommt in Deutschland noch die Wiederanhebung der Mehrwertsteuer. Für die nächsten ein bis zwei Jahre erwarten wir aber eine geringere Inflation als vor der Pandemie. 
Herr Kammer, vielen Dank für das Interview.

Mehr: Abstieg einer Wirtschaftsmacht – Eine ökonomische Analyse Europas

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  • Staaten sollten überhaupt nie mehr Zinsen bezahlen müsse. Die Staatsbanken sollten die Staaten durch Geldschöpfung aus dem Nichts finanzieren, also auf Schöpfgeld setzen. Schöpfgeld aber nur für Investitionen in Infrastruktur, wozu heutzutage auch Bildung und Ausbildung gehört, nebst Wohnungsbau-Genossenschaften. Der Staat begibt Bonds mit einer Laufzeit von 100 Jahren, Zinsen Null. So wären Schulden von 100 Euro, bei einer milden Inflation von 2% jährlich, am Ende der 100 Jahre nur noch 13,27 Euro wert. Dann fasst man die Restschuld zusammen und verlängert nochmals auf 100 Jahre, Zinsen Null. Staaten sterben nicht, deshalb kann man lange Laufzeiten wählen. Für die gewöhnliche Wirtschaft jedoch ist das gegenwärtige Schuld-Geld-System nahezu perfekt. Private Banken finanzieren die private Wirtschaft mit Zinsen, die von der Konjunktur abhängig gemacht werden, wie bisher. Schuldenbremsen sind der grobsten Unfug, der je in der EU erfunden wurde. Mit Schuldenbremsen wird die EU scheitern und Staaten aus der EU austreten. Großbritannien hat bisher, dank dessen, dass sie nicht dem Euro beigetreten sind, erhebliche Staatsschulden-Aufnahme durch Geldschöpfung durchführen können. Andererseits quält sich die EU selbst. Ist das Zukunft?

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