Europäische Union „Demonstrativ desinteressiert“: Deutsche Reformmüdigkeit bremst EU-Zukunftskonferenz

Bürgerbeteiligung ist der Präsidentin der EU-Kommission wichtig, wie sie betont.
Brüssel Um ganz große Fragen soll es gehen, wenn am Sonntag die Konferenz zur Zukunft Europas feierlich beginnt. Doch beinahe wäre das Projekt an einem kleinkarierten Verfahrensstreit gescheitert: Erst im letzten Moment gelang es dem Europäischen Parlament und Vertretern der Mitgliedstaaten, einen Kompromiss über die genaue Ausgestaltung der Konferenz zu finden. Haarscharf ist Europa der Blamage entgangen, zum Start der Zukunftskonferenz in ein rückwärtsgerichtetes Kompetenzgerangel zu stürzen.
Nun also kann es losgehen, passenderweise am Europatag, dem 9. Mai: Ein Jahr lang sollen europäische Bürger und Vertreter der EU-Institutionen über Klimaschutz, Sozialpolitik, Digitalisierung und Europas Rolle in der Welt diskutieren, unter anderem auf einer mehrsprachigen Onlineplattform. Aus den Anregungen sollen Vorschläge entwickelt werden, wie sich die EU künftig aufstellen soll.
Wie kann Europa nachhaltiger, gerechter, demokratischer werden? Wie kann es seine Interessen international besser vertreten? Mit diesen Fragen wird sich die Konferenz beschäftigen. Wird es länderübergreifende Listen bei den Europawahlen geben oder zumindest Spitzenkandidaten der großen politischen Lager? Wie soll sich die EU außenpolitisch präsentieren – wie gehabt mit hohem Blamagerisiko, siehe Sofagate? Oder mit klar verteilten Zuständigkeiten zwischen Kommission und Mitgliedstaaten?
Gemeinsam mit seinen Amtskollegen aus zwanzig Mitgliedsländern rief Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Europäer auf, die Chance zur Mitgestaltung zu nutzen: „Wir brauchen eine starke, handlungsfähige Europäische Union – eine Europäische Union, die den Übergang zu nachhaltiger, klimaneutraler und digital gestützter Entwicklung weltweit anführt.“
Doch von der Aufbruchsstimmung, die Steinmeier versprühen will, ist kaum etwas zu spüren. Falls es sie je gegeben haben sollte – die Querelen zwischen den EU-Institutionen haben sie erstickt. Statt sich Zukunftsthemen zuzuwenden, drehte sich in Brüssel die Debatte zuletzt darum, wer entscheiden darf, welche Reformvorschläge die Konferenz den Regierungen vorlegen kann.
Kritik an „nationalstaatlichen Blockademöglichkeiten“
„Die Verfahrensstreitigkeiten sind ein Stellvertreterkonflikt“, sagt der Volt-Politiker Damian Boeselager. „Sie zeigen, was das eigentliche Problem ist: die Angst der Regierungen, dass sich die Bürger und Bürgerinnen ein handlungsfähiges Europa und weniger nationalstaatliche Blockademöglichkeiten wünschen.“
Nur „sehr wenig Ehrgeiz“ macht auch der frühere EU-Parlamentarier Elmar Brok (CDU) unter den europäischen Regierungen aus. Es bestehe die Gefahr, dass die Konferenz zur „Plauderstunde“ werde.
Gerade am Verhalten der Bundesregierung wird deutlich, wie zurückhaltend die Mitgliedsländer auf die Reforminitiative reagieren. Gründe für Veränderungen im Machtgefüge der EU kann man in Berlin offenbar nicht erkennen.
„Aus Sicht der Bundesregierung ist die Covid-19-Krise ein Beispiel dafür, dass die Europäische Union Herausforderungen, vor denen Europa steht, wirksam begegnen kann“, schreibt Außenstaatssekretär Miguel Berger in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP. Konkret nennt Berger die Einigung auf den europäischen Zukunftsfonds „Next Generation EU“.
Eine Vision für Europa lässt sich nicht erkennen
Wie es mit Europa nach Ansicht der Regierung weitergehen soll, verraten die Antworten nicht. „Damit die EU auch weiterhin und jenseits der Pandemie auf Krisen und Entwicklungen reagieren kann, muss sie das dafür nötige Instrumentarium bereithalten und weiterentwickeln“, schreibt Berger lediglich. Viel mehr als ein „weiter wie gehabt“ ist das nicht. Eine Vision für Europa lässt sich darin nicht erkennen.
Diese Ambitionslosigkeit stößt im Bundestag auf scharfe Kritik. „Ich bin enttäuscht, die Bundesregierung zeigt sich demonstrativ desinteressiert“, sagt der FDP-Abgeordnete Jürgen Martens. „Die Probleme Europas verschwinden nicht, wenn man sich einer Diskussion verweigert.“
Gerade für Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dürfte das abwartende Taktieren der Bundesregierung enttäuschend sein, wenngleich er die Hoffnung längst aufgegeben haben dürfte, mit Berlin eine Reformachse für die Neugründung Europas zu bilden. Macron hatte die Konferenz angeregt, ursprünglich sollte es mit großem Tamtam im Mai 2020 losgehen, 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Dann kam die Pandemie dazwischen. Und jetzt die Lustlosigkeit in Berlin?
Sogar in den Regierungsfraktionen wird ein Unbehagen über den mangelnden Berliner Reformmut deutlich. „Als Deutsche müssen wir im Einklang mit unseren europäischen Partnern ein neues Europabild zulassen und bejahen“, fordert die stellvertretende Unionsfraktionschefin Katja Leikert. „Es muss klarer werden, dass Europa in der Welt von morgen unsere Lebensversicherung und unsere Heimat ist.“
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