Europa – die Serie Für die Balkanstaaten ist die EU der letzte Ausweg

Touristen blicken von einem Hügel über Sarajevo auf die Stadt.
Sarajevo Unter der hellgrauen Betondecke des Hub387 herrscht eine geschäftige Ruhe. In Reih und Glied aufgereiht arbeiten junge Menschen konzentriert vor ihren Bildschirmen. Ein paar englische Sprachfetzen fliegen durch den Großraum. 80 IT-Experten der Firma Mistral arbeiten hier und kreieren für Kunden in aller Welt Softwarelösungen.
Jovana Music, Geschäftsführerin des Hub387, sitzt inmitten des Co-Working-Spaces in einem Besprechungsraum mit grünen Pflanzenwänden aus Plastik. Die Mittdreißigerin spricht aber nicht nur über ihre Firma, sondern auch über die große politische Frustration der jungen Bosnier. „Meine Kollegen kennen nicht einmal die Namen der Politiker in Bosnien-Herzegowina“, erzählt Music.
Dabei befindet sich das protzig-hässliche Parlament in Sichtweite des modernen Hochhauses unweit der malerischen Altstadt Sarajevos mit Moscheen und Kirchen. Das hat auch mit der Schwerpunktsetzung der Politik in Bosnien-Herzegowina zu tun. „Es gibt mehr und mehr Politiker, welche die IT-Branche wertvoll finden“, sagt die Chefin des Hub387. „Doch die alten Themen aus dem 20. Jahrhundert überlagern alles.“ Damit meint sie etwa die Korruptionsmisere im Land und die Probleme mit den Nachbarländern auf dem Balkan.
Seit Ende vergangenen Jahres leiden Bosnien-Herzegowina und Serbien zum Beispiel unter einer hundertprozentigen Einfuhrsteuer des Nachbarlandes Kosovo. Grassierende Korruption, ethnische Spannungen, große Rechtsunsicherheit und mangelnde Medienfreiheit verhindern einen schnellen Anschluss an Europa.
Bosnien-Herzegowina steht dabei wie der Kosovo am Ende der langen Schlange. Kroatien und Slowenien sind bereits im erlauchten Kreis der derzeit 28 EU-Mitgliedstaaten. Serbien und Montenegro arbeiten sich mühsam und langsam an den Bedingungen für einen EU-Beitritt ab. Albanien und Nordmazedonien, das den historischen Namensstreit mit Griechenland beigelegt hat, hoffen auf die Aufnahme von Beitrittsgesprächen.
Der Kunststaat Bosnien-Herzegowina mit muslimischen Bosniern, katholischen Kroaten und orthodoxen Serben wurde mit dem Vertrag von Dayton 1995 unter US-Präsident Bill Clinton gegründet. Funktioniert hat das politische fragile Staatsgebilde nie wie ursprünglich geplant. Die drei Ethnien blockieren sich selbst. Die Identifikation mit dem Staat ist auch fast ein Vierteljahrhundert später gering. Umso größer ist hingegen die Sehnsucht nach Europa. Doch die realistische Aussicht auf einen EU-Beitritt rückt eher in die Ferne.
In den Balkanländern wird aufmerksam registriert, dass Deutschland und Frankreich bei der EU-Erweiterung in Südosteuropa bremsen. Das wird an diesem Montag Thema sein, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron mit den Staaten auf einer Balkankonferenz die Zukunft besprechen.
Die EU will sich nicht überfordern. Was passiert aber mit einem Land wie Bosnien-Herzegowina, wenn die Aufnahme in die EU auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben wird? Edin Deljkic, Präsident des bosnischen Softwareverbands Bit Alliance, seufzt bei der Frage. Er mag sich dieses Szenario nicht vorstellen. „Wir sind nur ein kleines Land.“ Sein Argument: Eine Aufnahme von Bosnien-Herzegowina würde die EU angesichts der geringen Größe des Landes mit rund drei Millionen Einwohnern wirtschaftlich kaum belasten.
Doch Brüssel ist tief frustriert über Bosnien-Herzegowina. Denn die Reformen im Land kommen kaum voran. Bosnier, Serben und Kroaten blockieren sich gegenseitig. „Wir müssen uns von der Logik von Dayton zur Logik von Brüssel bewegen“, sagt EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn. Wo immer der 61-jährige Österreicher in Bosnien-Herzegowina auftritt, versucht er, unrealistische Erwartungen an Brüssel zu dämpfen. „Besessen von einem bestimmten Zeitpunkt zu sein ist eine schlechte Voraussetzung für einen Kandidatenstatus“, sagt Hahn.
Hahn kennt die Hauptprobleme der Region: Das Abwandern von jungen Arbeitskräften nach Deutschland, Österreich oder Skandinavien zehrt die Balkanländer immer weiter aus. Ihnen droht wie auch den Nachbarn eine Überalterung der Gesellschaft, wenn die Wirtschaft nicht schneller als die derzeitigen gut drei Prozent im Jahr wächst und attraktive Arbeitsplätze entstehen. Offiziell verfügt das Land mit einem schmalen Zugang zur Adria über 3,5 Millionen Einwohner. Tatsächlich dürfte die Zahl nach Einschätzung von Insidern deutlich darunter liegen. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von nur 5 674 Dollar pro Kopf gehört der Balkanstaat zu den ärmsten Ländern in Europa.
Jovana Music von Hub387 ist mit ihren vielen jungen Kollegen eine positive Ausnahme. Gut ausgebildete Nachwuchskräfte entscheiden sich ansonsten eher für eine Zukunft außerhalb ihres Landes. Der wichtigste Grund: Das Durchschnittseinkommen im Land liegt gerade einmal bei 470 Euro monatlich. Nach Schätzungen in Sarajevo haben rund 100.000 junge Menschen in den vergangenen zehn Jahren dem Land den Rücken gekehrt.
Die aufkeimende IT-Industrie mit landesweit 3 000 Beschäftigten ist die größte Hoffnung des fragilen, gerade 24 Jahre alten Balkanlandes. „Die Regierung versteht den Wert der IT-Industrie. IT und Tourismus sind die am schnellsten wachsenden Branchen“, sagt Music. Doch die Wachstumsbranchen sind noch zu schwach.
„Wenn unser Land nicht zur EU kommt, werden noch mehr Leute gehen, nicht nur die jungen, sondern auch die Menschen über 40 Jahre“, prognostiziert Sanja Miovcic, Executive Director der Foreign Investors Council in Sarajevo. Ausländische Investoren ins Land zu holen ist schwierig. „Wir haben extrem zersplitterte Regeln für Unternehmer. Um eine Firma zu gründen, müssen zahlreiche bürokratische Hürden überwunden werden“, sagt die Repräsentantin. Bisher sind 50 ausländische Unternehmen mit insgesamt 14 000 Beschäftigten in Bosnien-Herzegowina aktiv. „Das Steuersystem ist komplex und nicht einmal innerhalb des Landes harmonisiert.“ Willkürliche Strafen und schikanöse Inspektionen lähmen.
Jasmin Hoso, Länderchef des österreichischen Ziegelkonzerns Wienerberger in Bosnien-Herzegowina, kennt die Probleme: „Die Leute sind demoralisiert“, bekennt er mit traurigem Gesicht. Seine ganze Hoffnung ist die EU, die mehr Druck auf die Politiker in seinem Land machen soll. Europa versteht der Manager als letzte Ausfahrt für das kleine Balkanland.
„Das größte Sorgenkind“
Mirko Sarovic wirbt täglich für den Wirtschaftsstandort Bosnien-Herzegowina. Als Minister für Außenhandel und wirtschaftliche Beziehung ist er in der Regierung für die ökonomische Weiterentwicklung des Landes verantwortlich. Der 62 Jahre alte ehemalige Präsident der serbischen Teilrepublik Srpska gesteht die versäumten Reformen ein: „Natürlich müssen wir die Effizienz im Land verbessern und die Korruption im öffentlichen Bereich eindämmen“, sagte der Minister und plädiert für weitere Privatisierungen.
Sarovic würde nach eigenem Bekunden liebend gerne die Reformen beschleunigen. Doch die Regierung kann oder will nicht. Politisch gleicht Bosnien-Herzegowina einer Schildkröte auf dem Rücken. Sie bewegt sich und kommt dennoch nicht voran.
„Die Reformen kommen nicht voran“, kritisiert zehn Gehminuten entfernt EU-Kommissar Hahn, der an diesem Tag zu Besuch in Sarajevo ist, vor laufenden Kameras der bosnischen Medien. „Die Regierung liefert nicht.“ Enttäuschung, aber auch Unmut über den politischen Stillstand schwingt in den Worten mit. „Bosnien-Herzegowina ist das größte Sorgenkind.“ Es ist ein niederschmetterndes Zeugnis, das Hahn dem Balkanland ausstellt.
Eine Alternative zu Europa aber gibt es aus Sicht der meisten Bosnier nicht. Was also, wenn der EU-Beitritt absehbar nicht kommt? Ein Scheitern der Integration in Europa könnte abermals zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führen, warnt etwa Manager Hoso. „Niemand fragt uns, wie gefährlich es wäre, wenn der nächste Krieg ausbrechen würde“, sagt der Länderchef in einer Stadt, in der manche Fassade noch immer von Einschusslöchern aus dem Balkankrieg übersät ist.
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