Informeller Gipfel EU-Staaten streiten um Juncker-Nachfolge

Angela Merkel inmitten der Staats- und Regierungschefs beim Gruppenfoto.
Sibiu Der EU-Kommissionspräsident hatte einen Wunsch: Die EU-Staats- und -Regierungschefs sollten am 30. März 2019, am Tag nach dem Austritt Großbritanniens aus der Union, zu einem Sondergipfel „in der schönen Stadt Sibiu“ zusammenkommen, hatte Jean-Claude Juncker vor eineinhalb Jahren in seiner Rede zur Lage der EU gesagt. Das werde der Moment sein, „um gemeinsam die Beschlüsse zu fassen, die für ein enger vereintes, stärkeres und demokratischeres Europa notwendig sind“.
Es ist etwas anders gekommen, als Juncker sich das vorgestellt hatte. Das Treffen im rumänischen Hermannstadt wurde einige Wochen nach hinten verlegt, die Briten sind immer noch in der EU, und auch mit den gemeinsamen Beschlüssen ist es so eine Sache: Manches von dem, was Juncker und EU-Ratspräsident Donald Tusk an Reformen gefordert hatten, wurde umgesetzt, vieles aber blieb unerledigt. Bei zentralen Streitpunkten wie der Reform der Währungsunion oder des gemeinsamen Asylsystems ist weiterhin nicht erkennbar, wie die Knoten gelöst werden sollen.
In Sibiu haben die 27 Staats- und Regierungschefs – ohne die britische Premierministerin Theresa May – erstmals über die Prioritäten für die kommende Legislaturperiode gesprochen, die nach der Europawahl am 26. Mai beginnt. Die „strategische Agenda“ listet die Schwerpunkte für die nächsten fünf Jahre auf – vom Schutz der Grenzen über eine neue Industriestrategie und eine beschleunigte Energiewende bis hin zur robusteren Verteidigung der europäischen Interessen auf internationaler Ebene. Am Rande des Gipfels sprachen die Staats- und Regierungschefs auch über die anstehende Neubesetzung der Spitzenposten.
Es gilt, nicht nur Nachfolger für Juncker und Tusk zu finden, auch die Stellen des Präsidenten des Europaparlaments und der Europäischen Zentralbank sowie der EU-Außenbeauftragten sind neu zu vergeben. Die Personalien dürften „nicht zum Gift für Europa werden und mehrere Gipfel beschäftigen“, warnt ein hochrangiger Diplomat.
Ratspräsident Tusk drückt deshalb aufs Tempo: Zwei Tage nach der Europawahl will er die Suche auf einem Sondergipfel vorstrukturieren, beim regulären Treffen der Staats- und Regierungschefs drei Wochen später sollen dann bereits Entscheidungen fallen – und zwar möglichst über alle Spitzenpersonalien auf einmal.
Bei der Berufung des neuen Kommissionspräsidenten bahnt sich bereits ein Machtkampf an. Staatschefs wie der rumänische Präsident Klaus Iohannis pochen wie das Europaparlament darauf, dass der künftige Kommissionspräsident aus dem Kreise der Spitzenkandidaten für die Europawahl berufen wird. Vor allem Regierungschefs aus dem liberalen Lager widersprechen: Dies sei „keine gute Lösung“, sagte Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron, solange die Spitzenkandidaten nicht auch über transnationale Listen von den Europäern gewählt werden könnten.
Die scheidende Präsidentin Litauens, Dalia Grybauskaite, erinnerte daran, dass das Vorschlagsrecht für den neuen Kommissionspräsidenten nach den EU-Verträgen bei den Staats- und Regierungschefs liege. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel verwies auf die Regelung, betonte aber: „Ich unterstütze Manfred Weber, damit das ganz klar ist.“ Der CSU-Politiker ist Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei bei der anstehenden Wahl. Als mögliche Alternativen gelten Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier und Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager.
Die Besetzungen bringen also noch viel Redebedarf mit sich. Auch die strategische Agenda besteht bislang nur aus Überschriften. Es sei „eine ziemliche Herausforderung“, sich zwei Wochen vor der Europawahl auf eine gemeinsame Vision zu einigen, sagt ein hochrangiger EU-Diplomat. Schließlich kämen die Regierungschefs aus unterschiedlichen politischen Lagern, die um Wähler, Einfluss und Positionen konkurrierten. Bis zum nächsten Gipfel Mitte Juni will Tusk die Agenda mit Inhalt füllen.
Mehr Symbolwirkung, weniger Streit
Je konkreter es wird, desto weiter gehen die Vorstellungen auseinander. Vor allem die Themen Asyl, Währungsunion, Klimaschutz und mit Abstrichen auch die Industriepolitik bergen Sprengstoff. Handfesten Streit aber wollten Tusk und Iohannis als Gastgeber unbedingt vermeiden – zumal der Gipfel symbolträchtig am Europatag stattfand: Am 9. Mai 1950 hatte Frankreichs Außenminister Robert Schuman seine Pläne für eine europäische Montanunion vorgestellt, den Vorläufer der EU.
Auch Merkel bemühte sich deshalb, die Gemeinsamkeiten herauszustellen: „Unbeschadet unserer politischen Unterschiede glauben wir alle, dass gemeinsames Handeln besser ist“, sagte sie und mahnte: „Die Welt schläft nicht.“ Sie regte an, dass sich die Staats- und Regierungschefs künftig regelmäßig im Zweimonatsrhythmus treffen sollten, um politische Blockaden im Ministerrat zu lösen.
In der gemeinsamen Gipfelerklärung schwören die Staats- und Regierungschefs pathetisch: „Wir werden vereint durch dick und dünn gehen.“ Das aber muss sich erst einmal erweisen. Die Vorstellungen über die Entwicklung der EU gehen weit auseinander: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron fordert mutige Integrationsschritte, während der ungarische Premier Viktor Orbán und sein polnischer Kollege Mateusz Morawiecki die Souveränität der Nationalstaaten stärken wollen. Auch Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz fordert, Kompetenzen aus Brüssel zurückzuverlagern: „Europa muss schlanker und effizienter werden“, sagte er im Handelsblatt-Interview. Der niederländische Premier Mark Rutte wiederum pocht auf die Umsetzung gemeinsam beschlossener Regeln.
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