Die Situation ist schwer zu überblicken, weil die Informationspolitik der Betreiber und der japanischen Regierung mangelhaft und unvollständig ist. Die größten Sorgen macht aber das Kraftwerk Fukushima Daiichi im Nordosten des Landes. Die Anlage, die erstmals vor 40 Jahren Strom lieferte, besteht aus sechs Reaktoren. In drei davon sind die Kühl- und die Notkühlsysteme ausgefallen, die Brennstäbe erhitzen sich, es droht eine Kernschmelze, vermutlich hat sie zumindest im ersten Reaktor schon eingesetzt. Teilweise ist bereits Radioaktivität ausgetreten.
Fällt in einem Reaktor die Kühlung aus, erhitzen sich die Brennstäbe. Steigt die Temperatur auf 2000 bis 3000 Grad, beginnen sie zu schmelzen. Die geschmolzene Masse sammelt sich im unteren Teil des dickwandigen Reaktordruckbehälters. Kommt genug Masse zusammen, kann sie sich durch die Wand des Druckbehälters fressen.
Nach dem Mega-Erdbeben wurde der Reaktor abgeschaltet. Allerdings fiel die komplette Stromversorgung samt Kühlsystem aus. Die Brennelemente müssen aber auch nach dem Stopp der Kettenreaktion, mit der Wasserdampf erzeugt wird, der wiederum die Turbinen antreibt und letztlich Strom erzeugt, gekühlt werden, um eine Kernschmelze zu verhindern. Dafür waren Dieselgeneratoren vorgesehen. Diese wurden aber von dem Tsunami, der das am Meer gelegene Kraftwerksgelände mit Schlamm-Massen überflutete, zerstört. Es blieb die Notstrom-Batterie, die aber nach und nach versagte.
Der GAU, der größte anzunehmende Unfall, ist sicherlich schon eingetreten. Es ist der größte technische Störfall, für den die Sicherheitseinrichtungen eines Kernkraftwerks ausgelegt sind. Dem Konzept nach ist solch ein Vorfall durch automatisch arbeitende Sicherheitssysteme beherrschbar und eine radioaktive Belastung der Umwelt und der Bevölkerung insgesamt vermeidbar. In Fukushima ist die Situation dagegen aus dem Ruder gelaufen, die Sicherheitssysteme haben versagt, die Betreiber müssen verzweifelt versuchen, das Schlimmste zu beherrschen. Noch ist der Sicherheitsbehälter offenbar intakt - doch hält er dem Druck nicht mehr stand, entweichen große Mengen Radioaktivität. Dann sprechen Techniker vom Super-GAU.
Die Schäden an der Anlage wie der Infrastruktur machen eine Reparatur des Kühlsystems unmöglich. Der Betreiber versucht deshalb, die Brennstäbe in den Reaktoren mit Meerwasser zu kühlen. Dafür muss es mit dem Halbmetall Bor versetzt werden, ohne dass die Reaktion im Reaktor noch weiter angeheizt wird. Hält das Druckgefäß, könnte sich die Hitze abbauen und die Kernschmelze gestoppt werden. Was mit dem radioaktiv verseuchten Meerwasser anschließend passiert, ist unklar. Als letztes Mittel bleibt, Sand über die Schmelze zu bekommen und sie so weit wie möglich von der Umwelt abzuschirmen. Für einige Experten sind die derzeitigen Versuche des Betreibers nur Verzweiflungstaten.
Wenn die letzte Barriere, das Druckgefäß, bricht, gelangen große Mengen Radioaktivität in die Umgebung. Dann gebe es eine atomare Katastrophe, mit einer großflächigen und lang andauernden Verseuchung der Umwelt, die viele Menschen schädigen könnte.
Am Samstag war zunächst im Block 1 des Kernkraftwerks von weithin eine Explosion sichtbar, gestern in Block 2. Nach Angaben des Betreibers wurde dabei aber nur die äußere Betonhülle des Reaktorgebäudes zerstört, nicht Reaktordruck- und Sicherheitsbehälter. Das klingt plausibel, sonst hätte die Radioaktivität um den Reaktor dramatisch höher sein müssen. Der Betreiber hatte erklärt, er habe radioaktiven Dampf abgelassen, um den Druck zu vermindern. Dabei sei es zu einer Wasserstoffexplosion gekommen.
Bei den radioaktiven Stoffen, die aus dem Kernkraftwerk austreten könnten, handelt es sich um Uran, Plutonium und um sogenannte Spaltprodukte wie Jod, Strontium und Cäsium. Die leicht flüchtigen Stoffe Jod und Cäsium treten bei einer Zerstörung des Reaktorgefäßes unmittelbar nach außen. Ob die weniger flüchtigen Stoffe Strontium, Uran und Plutonium tatsächlich freigesetzt werden, hängt vom Verlauf der Kernschmelze ab. Die Strahlung von Plutonium gilt als besonders gefährlich für den Menschen. Radioaktives Jod sorgt vor allem in den ersten acht Tagen nach einem Atomunfall für eine hohe Strahlenbelastung. Cäsium zerfällt dagegen mit einer Halbwertszeit von etwa 30 Jahren. In diesem Zeitraum reduziert sich das strahlende Material lediglich um die Hälfte. Es kann also auch noch viel später über Pflanzen in die Nahrungsmittelkette gelangen.
Menschen, die Radioaktivität einatmen oder von radioaktiven Partikeln in der Luft bestrahlt werden, leiden unter einem erhöhten Leukämie- und Krebsrisiko. Die Erkrankungen können sofort, aber auch Jahre nach der Bestrahlung ausbrechen. Wo die radioaktiven Stoffe bei einem Atomunfall auftreffen, hängt unter anderem vom Wetter ab. Bei Windstille und Regen sind besonders die Menschen in unmittelbarer Nähe des Atomkraftwerks betroffen. Bei Wind und Trockenheit breitet sich die Radioaktivität in einem größeren Umkreis aus. In Japan hoffen die Menschen, dass der Wind die Radioaktivität auf den Pazifik treibt. Sollte der Wind eine radioaktive Wolke jedoch nach Süden blasen, wäre auch der Ballungsraum Tokio betroffen.
Die Bevölkerung in der näheren Umgebung des Kraftwerks muss sich rechtzeitig weit genug vom Reaktor entfernen. Sobald Radioaktivität in größeren Mengen austritt, sollten sich die Menschen auch in hundert oder mehr Kilometer Entfernung in geschlossenen Räumen aufhalten. Gegen das radioaktive Jod kann man sich mit Hilfe von Jod-Tabletten schützen. Ist der Jod-Haushalt eines Menschen gedeckt, wird das radioaktive Jod vom Körper wieder ausgeschieden. Allerdings müssen die Tabletten eingenommen werden, bevor die Betroffenen mit der radioaktiven Wolke in Berührung kommen. Beim Cäsium gibt es keine Medikamente gegen die Strahlenbelastung. Auch längere Zeit nach dem Unfall sollte die Bevölkerung vermeiden, radioaktiv verseuchte Lebensmittel zu konsumieren.
Bei den Katastrophenreaktoren im japanischen Fukushima handelt es sich um Siedewasserreaktoren. Dabei sind die radioaktiven Brennstäbe im Reaktordruckbehälter von Wasser umgeben, das die Stäbe kühlt und dabei erhitzt wird. Im Druckbehälter wird der obere Teil des Wassers durch die Brennstäbe zum Sieden gebracht. Der entstehende Dampf wird über Rohre auf Turbinen geleitet, die Generatoren antreiben. Der Dampf wird dann abgekühlt und kondensiert. Das so zurückgewonnene Wasser gelangt erneut in den Reaktor-Kreislauf. Da der Wasser-Dampf-Kreislauf im Turbinengebäude direkt mit dem Reaktor verbunden ist, kann bei Lecks leicht Radioaktivität entweichen. Druckwasserreaktoren arbeiten dagegen mit zwei voneinander getrennten Kühlkreisläufen.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.