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Flüchtlingshilfe Türkische Hilfsorganisation in der Kritik für dubiose Zahlungen und Vetternwirtschaft

Der Rote Halbmond muss sich für dubiose Geschäftspraktiken rechtfertigen. Die türkische Hilfsorganisation erhält indirekt auch EU-Gelder.
21.02.2020 - 18:45 Uhr Kommentieren
Die Türkei hat mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen, als ganz Europa. Quelle: dpa
Türkei

Die Türkei hat mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen, als ganz Europa.

(Foto: dpa)

Istanbul Kerem Kinik zeigt sich am liebsten im Einsatz. Der Präsident des Türkischen Roten Halbmondes („Kizilay“) posiert mit Flüchtlingskindern beim Verteilen von Reissäcken in Krisengebieten. Die Spenden für seine Hilfsorganisation haben sich seit seinem Amtsantritt verdreifacht.

Doch jetzt muss sich Kinik, der auch im Präsidium der Internationalen Föderation der Rotkreuz-Organisationen (IFRC) sitzt, um Notfälle im eigenen Haus kümmern. Es geht um dubiose Zahlungen, Jobs für Verwandte – und möglicherweise eigenes Fehlverhalten.

So hat die Organisation nach Recherchen mehrerer türkischer Medien insgesamt acht Millionen US-Dollar an die türkische Ensar-Stiftung überwiesen. Anschließend wanderte ein Großteil der Gelder an die Hilfsgesellschaft Türgev. Die Organisation wird geleitet von Bilal Erdogan, einem der Söhne von Staatschef Erdogan.

Die Vorwürfe sind erdrückend, es liegen entsprechende Dokumente vor. Kinik erklärte sich nach Veröffentlichung der Berichte sogar zu Live-Interviews in oppositionellen türkischen Fernsehsendern bereit. Besonders pikant: Kizilay ist an der Umsetzung des EU-Türkei-Flüchtlingspakts beteiligt und erhält indirekt Gelder aus dem EU-Budget zur Versorgung syrischer Flüchtlinge in der Türkei.

Die Liste der Vorwürfe gegen Kizilay und ihren Präsidenten Kinik ist lang. Die Nachrichtenseite Odatv listet mehr als ein Dutzend Firmen auf, die im Istanbuler Handelsregister unter Kiniks Namen registriert seien. Die linke Nachrichtenseite Sol berichtet, Kinik habe seinen Sohn zum Vize-Chef der Kizilay-Jugendorganisation gemacht.

In einem Artikel der Zeitung Birgün wird Kinik vorgeworfen, im September 2016 die Zahlung von insgesamt 1,3 Millionen Lira (200.000 Euro) an eine Organisation namens „Yeryüzü Doktorlar“ angewiesen zu haben. Kinik hatte diese Organisation bis Ende 2015 selbst geleitet.

Hinzu kommt laut Medienberichten eine verschwenderische Ausgabenpolitik. So seien für ein Meeting in Antalya 20 Millionen Lira (rund 3 Millionen Euro) veranschlagt worden. Das Gehalt der Direktoren habe sich seit Kiniks Amtsantritt zudem mehr als vervierfacht.

„Einige Gehälter liegen oberhalb von 30.000 Lira“, schreibt die Zeitung Birgün. Das würde dem 15-fachen des Mindestlohns in der Türkei entsprechen. Pro Monat würden Führungskräfte der Hilfsgesellschaft zusammengerechnet rund 880.000 Türkische Lira erhalten, das entspricht rund 120.000 Euro an Managergehältern pro Monat.

Angriffsfläche für die Opposition

Der Vorgang zeigt, dass Vetternwirtschaft in der Türkei nach wie vor eine wichtige Rolle spielt. Für die Opposition sind die Vorwürfe eine gute Gelegenheit, Kritik an der Regierung zu üben, ohne den Präsidenten direkt anzugreifen. „Kizilay bildet jetzt die neue Angriffsfläche für Erdogan-Kritiker“, sagt ein ranghoher Mitarbeiter einer internationalen Hilfsgesellschaft dem Handelsblatt. Und so haben viele türkische Journalisten den Roten Halbmond als Objekt kritischer Regierungsberichterstattung entdeckt.

Die Organisation will professionell auf die Vorwürfe reagieren. Auf Anfrage verweisen Sprecher von Kizilay und IFRC auf Pressemitteilungen und Videos, in denen Kinik persönlich die Vorgänge erklärt. Auf der Internetseite gibt es eine eigens eingerichtete Seite, auf der die Organisation die eigene Sicht zu den Vorwürfen erklärt.

Zur umstrittenen Acht-Millionen-Dollar-Zahlung schreibt Kizilay etwa, dass es sich um eine Spende mit einem konkreten Verwendungszweck gehandelt habe. „Kizilay nimmt solche Spenden an, wenn sie nicht an Drogenhändler, Terrorunterstützer oder private Firmen weitergeleitet werden.“

Für die Europäische Union sind diese Vorwürfe mindestens unangenehm. Kizilay ist nämlich indirekt in die Hilfsprojekte involviert, die von Brüssel bezahlt werden. Die Türkei hat seit Ausbruch des Krieges im Nachbarland rund 3,7 Millionen Syrer aufgenommen, mehr als ganz Europa. Damit die Türkei diese Menschen nicht nach Europa schickt, bezahlt Europa der Türkei sechs Milliarden Euro.

Die Regeln der Europäischen Kommission schreiben vor, dass Gelder nur an europäische oder UN-Organisationen gehen dürfen. Offiziell arbeitet die Europäische Union im Rahmen des Flüchtlingspakts daher nicht mit Kizilay zusammen. In einer Liste, in der mehrere Dutzend Umsetzungsorganisationen des Flüchtlingspakts aufgelistet sind, finden sich daher Namen wie Unicef, World Food Program (WFP), Welthungerhilfe oder die Internationale Föderation der Rotkreuz-Gesellschaften (IFRC).

Diese können aber mit lokalen Implementierungspartnern zusammenarbeiten. So ist etwa Unicef damit beauftragt, syrischen Flüchtlingsfamilien mit schulpflichtigen Kindern eine Art Taschengeld auszuzahlen, wenn die Kinder tatsächlich am Unterricht teilnehmen.

Das Geld wird auf eine Art Kreditkarte geladen. Herausgeber der „Kizilaycard“ ist Kizilay. Das Projekt, für das offiziell Unicef verantwortlich zeichnet, ist in einer offiziellen Auflistung der Europäischen Kommission mit 70 Millionen Euro budgetiert. Wieviel davon Kizilay erhält, ist unklar.

„Er hat ein Verbrechen begangen“

Die Internationale Föderation der Rotkreuz-Organisationen (IFRC), zu der Kizilay gehört und wo Kinik im Präsidium sitzt, wird darüber hinaus im Rahmen der zweiten Tranche des Flüchtlingspakts 500 Millionen Euro erhalten, ein Sechstel des Gesamtbudgets. In der ersten Tranche erhielt das IFRC gerade einmal 6,3 Millionen Euro.

Das Geld wird für ein Sozialhilfeprojekt benutzt, für das vorher eine UN-Organisation verantwortlich zeichnete. Die Europäische Kommission äußert sich auf Handelsblatt-Anfrage nicht zu den Vorgängen. Und das, obwohl Direktoren von Kizilay in Ankara regelmäßig an Treffen teilnehmen, bei denen auch Vertreter der EU mit am Tisch sitzen.

Für die Opposition ist der Fall klar: Kinik muss gehen. „Er hat ein Verbrechen begangen“, klagt Haluk Peksen, der für die oppositionelle CHP im Parlament sitzt. Auch der ehemalige Präsidentschaftskandidat der CHP, Muharrem Ince, forderte Kinik in einem Tweet zum Rücktritt auf. CHP-Politiker Gürsel Tekin beklagt außerdem die Entwicklung, die der Türkische Rote Halbmond in den vergangenen Jahren unternommen hat. „Die AKP hat Kizilay in ihren Hinterhof verwandelt“, sagt er.

Der ansonsten beliebte Präsident von Kizilay ist nun in seinem Ansehen beschädigt. Außerdem erhält die Organisation den größten Teil seines Budgets über Spenden von Privatpersonen. Mehrere oppositionelle Zeitungen haben bereits aufgerufen, nicht mehr an Kizilay zu spenden.

Bei aller Kritik: Kizilay gehört zu den aktivsten Hilfsorganisationen weltweit. Nicht nur im eigenen Land, wo zuletzt eine Serie von Erdbeben und zwei schwere Lawinenunglücke mehrere Menschen getötet und hunderte weitere obdachlos gemacht haben. Kizilay gehört bei solchen Ereignissen regelmäßig zu den ersten Helfenden vor Ort. Dass die Organisation besonders in solchen Phasen um private Spenden wirbt, ist in der Branche überhaupt nicht ungewöhnlich.

Auch in der letzten syrischen Rebellenhochburg ist Kizilay aktiv. An der türkisch-syrischen Grenze errichten Angestellte und Freiwillige der Organisation derzeit im Eiltempo Unterkünfte für bis zu 800.000 Menschen, die bei Minusgraden ihre Häuser verlassen mussten, weil syrische Regierungstruppen die Gegend bombardieren.

Die oppositionelle Zeitung Duvar, die ebenfalls Kritik an den Praktiken Kizilays übte, hält den Boykottaufruf daher für übertrieben. „Wer jetzt zum Boykott von Kizilay aufruft, der vergisst, dass es auch bei uns im Land Katastrophen gibt“, schreibt Duvar-Journalist Ümit Kivanc in einer Kolumne. Kizilay sei dann immer zuerst an den Unglücksorten. „Das sollten die Kritiker auch berücksichtigen.“

Mehr: Politiker fürchten einen drastischen Anstieg der Flüchtlingszahlen. Und die EU hat noch immer keine gemeinsame Antwort gefunden.

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