Global Risk Türkei Die türkische Wirtschaft wächst – und genau das ist das Risiko

Der türkische Präsident Tayyip Erdogan sorgt mit seinen Interventionen bei der Notenbank für Verunsicherung.
Istanbul Der Gang zum Wochenmarkt bereitet Hatice Kilic Sorge. Die dreifache Mutter und Inhaberin einer kleinen Pension an der türkischen Mittelmeerküste ist froh, dass wieder Touristen in ihr Dorf kommen. Monatelang hatte sie wegen der Ausgangsbeschränkungen keinen Umsatz gemacht.
Jetzt läuft das Geschäft wieder an. Allein, ihre Ausgaben steigen stärker als die Einnahmen. Vor einem Jahr kostete ein Paket Eier 17 Lira. „Jetzt sind es 34 Lira“, sagt Kilic. Sie geht weiter zum Tomatenstand. Tomaten hätten sich pro Kilo von vier auf sieben Lira verteuert, Kartoffeln von zwei auf fünf Lira. Ein Fünf-Liter-Becher Joghurt beim Händler nebenan kostet nun 20 Lira statt 13 Lira. Für eine Übernachtung könne sie jedoch nicht mehr als 80 Lira verlangen, rund 7,90 Euro inklusive Frühstück und Abendessen. Das ist so viel wie vor einem Jahr. Wenn sie den Preis erhöhe, würden die Touristen bei der Konkurrenz übernachten. Kilic sagt, sie sei nicht politisch. „Aber das kann mit denen, die uns regieren, so nicht weitergehen.“
Was die Pensionsbesitzerin durchmacht, geschieht derzeit überall im Land. Auch Müjdat Kececi, Vorstandsvorsitzender des Drahtherstellers Er-Bakir im westanatolischen Denizli, freut sich zwar über die neuen Auftragseingänge. „Aber die hohen Energiepreise behindern die Produktion“, warnt der Manager. Allein seine Gasrechnung habe sich seit Jahresbeginn um 70 Prozent verteuert, für Elektrizität musste seine Firma 21 Prozent mehr ausgeben. „Insgesamt geben wir jetzt 40 Prozent mehr für Energie aus“, erklärt er. Auch für Stahl und andere Rohstoffe muss er immer tiefer in die Tasche greifen. Er könne die Preise gar nicht schnell genug anheben, um diese Mehrausgaben auszugleichen.
Türkei: Die Wirtschaft wächst, aber die Inflation steigt noch stärker an
Es klingt paradox: Die türkische Volkswirtschaft gehörte im Pandemiejahr 2020 zu den wenigen, die überhaupt gewachsen sind. Im zweiten Quartal wuchs das türkische Bruttoinlandsprodukt um 21,7 Prozent, der höchste Zuwachs seit 1999. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erhöhte seine Wachstumsprognose für das Gesamtjahr 2021 von 5,8 auf 9 Prozent.
Das Problem: Bei der Bevölkerung und in der Industrie kam davon kaum etwas an. Die Inflation im Land hat mit rund 19,6 Prozent im September ein Rekordhoch erreicht. Die Lira hat zu Euro und US-Dollar seit Beginn der Pandemie rund 50 Prozent an Wert verloren. Alles wird teurer, trotz Lohnerhöhungen können sich die Menschen nicht mehr leisten. Auch Investments verteuern sich: Die Aufschläge für Kreditausfallversicherungen (CDS) sind seit Anfang des Jahres von 300 auf 419 Basispunkte angestiegen.
Die hohen Teuerungsraten korrelieren dabei mit den Umfragewerten – allerdings nicht für die Regierung, sondern für die Opposition. Gut anderthalb Jahre vor den nächsten Präsidentschaftswahlen schwächelt die Regierungspartei AKP von Staatschef Recep Tayyip Erdogan und könnte bald zusammen mit ihrem Koalitionspartner MHP die absolute Mehrheit verlieren. Das Vertrauen in die Administration in Ankara sinkt. „Sie tun nur noch das, was sie an der Macht hält, aber nicht mehr das, was Wachstum und Stabilität bringt“, beobachten ranghohe ausländische Diplomaten in der türkischen Hauptstadt Ankara.
Staatschef Erdogan verstärkte über Nacht diesen Eindruck. Er entließ am Mittwoch drei Mitglieder des geldpolitischen Ausschusses und ernannte an ihrer Stelle zwei neue Mitglieder. Das Dekret wurde kurz nach Mitternacht Ortszeit veröffentlicht, eine Begründung wurde nicht bekannt gegeben. Der Kurs der Landeswährung sank nach der Bekanntgabe auf ein Rekordtief von 9,17 Lira für einen Dollar.
Das klingt nicht nach Aufbruch, sondern nach Machterhalt. „Wir haben eine Sklerose im System, es fehlt der Reformwille“, resümiert Markus Slevogt, Präsident der Deutsch-Türkischen Handelskammer in Istanbul. Das Land besitze großes wirtschaftliches Potenzial, ist er überzeugt. Doch es fehle der institutionelle und ordnungspolitische Rahmen, um dieses Potenzial zu heben. Aus der Chance wird so ein Risiko.
Stattdessen lässt Erdogan die Leitzinsen senken, um das Wirtschaftswachstum künstlich anzuheben. „Wenn jedoch bald in den USA oder in der Euro-Zone die Zinsen angehoben werden, dann haben die Türkei und andere Emerging Markets mit ähnlicher Finanzierungsstruktur ein Problem“, warnt Slevogt.
Dem Land fehlt das Wirtschaftsmodell
Dem Land fehlt ein Wirtschaftsmodell, um von dem Aufschwung nachhaltig zu profitieren. Vieles muss importiert werden, und Rohstoffe werden derzeit an den Weltmärkten immer teurer. „Die türkische Wirtschaft absorbiert und importiert relativ mehr Technologie, als sie kreiert und exportiert“, erklärt Slevogt. Die steigenden Energiepreise werden die Situation im Winter verschlimmern. Der türkischen Volkswirtschaft droht eine gefährliche Krisenspirale.
Die Regierung in Ankara hat seit 2014 mehrfach versucht, Rezessionen mit kreditfinanzierten Wachstumsprogrammen zu entgehen. Jedoch verschlimmert jedes Kreditprogramm das Leistungsbilanzdefizit des Landes und erhöht die Abhängigkeit von ausländischen Geldgebern. Hinzu kommt, dass die Schulden bei Firmen und Haushalten massiv ansteigen. Wenn dann auch noch die Lira an Wert verliert, werden im Ausland aufgenommene Kredite umso teurer.
Experten wie AHK-Präsident Slevogt kritisieren außerdem, dass das türkische Wirtschaftsmodell einseitig auf den Konsum oder auf einzelne Branchen wie den Bausektor ausgerichtet sei. Die Qualität an Schulen und Universitäten sei mau. „Es wird zu viel wiederholt, niemand wird zur Kreativität erzogen“, kritisiert Slevogt, der lange Jahre für die Deutsche Bank unter anderem in Istanbul gearbeitet hat.
Die einseitige Fixierung auf schnelles Geld rächt sich nun. Die Türkei läuft Gefahr, am hektisch orchestrierten und kreditfinanzierten Aufschwung zu ersticken. Die Arbeit der Regierung macht es nicht besser. Als Gerüchte aufkamen, Erdogan habe das Vertrauen in den aktuellen Chef der Zentralbank verloren, sackte die Lira wieder kurzzeitig ab. Und je schwächer die Lira wird, desto teurer werden Importe; je teurer wiederum die Importe sind, desto weniger profitieren türkische Firmen und Konsumenten vom eigenen Aufschwung. Ein Teufelskreis.
Gaspreise: Der Türkei droht ein „schwarzer Winter“
Im Sommer durfte die türkische Volkswirtschaft zwar eine Verschnaufpause einlegen. Touristen brachten Devisen ins Land, die steigende Impfquote in Verbindung mit immer lascheren Ausgangsbeschränkungen ließ die Wirtschaft aufleben. Doch für den Winter sehen viele schwarz, im wahrsten Sinne des Wortes.
„Uns droht ein schwarzer Winter“, warnte die türkische Wirtschaftszeitung „Dünya“. Niedrige Temperaturen und steigende Importpreise für Öl und Gas könnten die Türkei in die nächste Wirtschaftskrise führen. Und es sieht nicht danach aus, als hätte die Regierung ein Mittel parat, um dem nächsten Tiefgang zu entgehen.
Das klingt nach hausgemachter Krise. Doch die schwierige Lage in der Türkei kann auch die Nachbarn treffen. In beinahe jedem geopolitischen Konflikt spielt die Türkei eine Rolle, von der Migrationskrise über Desinformationskampagnen bis hin zu den aktuellen Schwierigkeiten bei den globalen Lieferketten. Das hat der Türkei nicht nur einen Platz an vielen Verhandlungstischen beschert. Gleichzeitig ist das Land immer abhängiger von globalen Entwicklungen geworden.
Wenn der Präsident den Wechselkurs beeinflusst
Nachdem Präsident Erdogan diese Woche eine mögliche Militäroffensive im benachbarten Syrien angedeutet hatte, weitete die türkische Lira ihren Rückgang auf ein Rekordtief aus. Erdogan sagte, die Türkei sei entschlossen, die von Syrien ausgehenden Bedrohungen „entweder durch dort aktive Kräfte oder mit unseren eigenen Mitteln“ zu beseitigen. Zuvor waren zwei türkische Sicherheitskräfte in dem Bürgerkriegsland bei einem Anschlag ums Leben gekommen.
Die Lage ist so labil, das Vertrauen derart erschüttert, dass selbst halbe Ankündigungen wie die von Erdogan bereits die Märkte beeinflussen. „Marktteilnehmer scheinen diese Kommentare als möglicherweise beschlossene Militäroperation wahrzunehmen“, beschrieb Emre Degirmencioglu von der Iktisatbank in einer Analyse den kurzzeitigen Lira-Ausverkauf. Washington warnt bereits, es könnte erneut Sanktionen gegen die Türkei verhängen.
Politische und ökonomische Risiken sind gefährlich miteinander verwoben
Politische und ökonomische Risiken sind dabei regelmäßig verknüpft. Beispiel Zollunion mit der EU: Eine Neuauflage des Abkommens hängt nicht nur an technischen Spezifikationen und Wünschen der Wirtschaft. Es war die türkische Regierung, welche die Verhandlungen über eine Zollunion mit einem neuen Migrationsabkommen verknüpft haben wollte.
Und nun ist es auf der anderen Seite die EU, die weitere Verhandlungen in Sachen Zollunion an demokratischen Maßstäben messen will. „Nur wenn es Fortschritte in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaat gibt, werden wir über eine erweiterte Zollunion sprechen“, sagte der Türkei-Berichterstatter des Europäischen Parlaments, Nacho Sánchez Amor, dem Handelsblatt. Die EU-Volksvertretung hat das letzte Wort, wenn Verträge wie die Zollunion mit der Türkei beschlossen werden. „Wir brauchen Fortschritte auf der einen Seite, sonst gibt es keine Fortschritte auf der anderen Seite“, fordert Sánchez Amor.
Die Stimmungsmache insbesondere der Opposition im Land gegen Flüchtlinge macht die Situation noch schwieriger. Sie möchte das Flüchtlingsabkommen am liebsten aufkündigen und die rund vier Millionen „Gäste“ im Land so schnell wie möglich loswerden. Einem wachsenden Teil der Bevölkerung gefällt diese Auffassung. Die Regierung kann kaum gegenhalten. Ein neues Risiko entsteht: Wenn EU und Türkei beim Thema Migration bis zur nächsten Wahl weiter über Kreuz liegen, wird es umso schwieriger, bei Wirtschaftsthemen zu kooperieren.
Die Türkei, ein Land mit großem Potenzial und ein Land mit noch größeren Risiken. Unternehmer und Anleger reagieren unterschiedlich. Volkswagen stoppte bereits vor zwei Jahren seine Pläne für ein Werk in dem Land. Andere, wie der Buszulieferer Farhym, ein Unternehmen der Hymer-Gruppe, denken über den Bau eines weiteren Werks in der Türkei nach.
Ökonom hält den Wirtschaftskurs für legitim
Der Kreditversicherer Euler Hermes schätzt, dass in diesem und dem kommenden Jahr die Zahl der Insolvenzen in dem Land um 17 Prozent ansteigen könnte. Auch an den türkischen Finanzmärkten dominieren Ausverkäufe. Gleichzeitig erklären Experten wie Ex-Banker Slevogt, dass türkische Aktien derzeit unglaublich günstig bewertet seien – ein mögliches Kaufsignal. Klar ist: Die Türkei ist ökonomisch kein Selbstläufer mehr. Und der Regierung gelingt es nicht, diesen Eindruck umzukehren. Im Gegenteil: Aktionen wie die Über-Nacht-Rauswürfe machen es nur noch schlimmer.
Es gibt auch Gegenstimmen. Ugras Ülkü vom Institute for International Finance (IIF) hält den Wirtschaftskurs der Administration in Ankara für legitim. „Die schwache Währung trägt dazu bei, das Außenhandelsdefizit der Türkei mittelfristig zu minimieren“, ist er überzeugt. Während die Inflationsaussichten zwar schwieriger würden, habe die schwächere Lira die Neuausrichtung der türkischen Wirtschaft hin zu einem stärker exportorientierten Modell unterstützt. Die schwächere Lira habe im gleichen Zeitraum die Nachfrage nach importierten Gütern gebremst. „Das wird die Exporte weiterhin stützen und gleichzeitig das Importwachstum in den kommenden Monaten und Jahren dämpfen“, meint Ülkü.
Auch Handelskammer-Präsident Markus Slevogt ist eigentlich positiv eingestellt, wenn es um die Türkei geht. Er lebt dort seit 22 Jahren und hat deutlich schlimmere Krisen erlebt als die derzeitige. Slevogt ist optimistisch und glaubt, dass die türkische Wirtschaft bald wieder an Stärke gewinnen werde. „Man sieht aber leider im Moment nicht so viel Bereitschaft dazu, die nötigen Reformen einzuleiten.“ Die nächsten Wahlen sind für Juni 2023 angesetzt. „Für die türkische Wirtschaft ist das eine Ewigkeit.“
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Die Abwertung der TRY bewirkt, dass die Importe teurer werden. Das ist zwar nicht schön und bequem, es hilft aber die Handelsbilanz zu verbessern.
Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern mit (am Dollar) gekoppelten Währungen, kann die Türkei selbstständig ihre Zukunft beeinflussen.
Die Abwertung der TRY sehe ich nicht so negativ, wie im Artikel beschrieben.
Übrigens gibt es auch in Deutschland ähnliche Phänomene, die Lösung ist, bei den Kosten runter, wenn die Erträge nicht steigen: Der Frühstücksgast bekommt halt nicht mehr zwei Frühstückseier sondern nur eins oder keines! Wenn der Gast dann doch eines will: Aufpreis - ist halt so!