Global Risk Überhitzt und unterkühlt zugleich: Die US-Wirtschaft sucht ihr neues Gleichgewicht

Der aktuelle Neustart der US-Wirtschaft gestaltet sich schwieriger, als noch im Frühjahr erwartet wurde.
Washington, Denver Egal ob beim Friseur, im Restaurant oder in der Bankfiliale, überall sind Schilder in den Schaufenstern, auf denen in großen Lettern „Wir suchen Verstärkung“ steht. Es ist ein Zeichen dafür, dass die Wirtschaft wieder auf Wachstum geschaltet hat. Die Arbeitslosenquote sinkt, die Löhne steigen, und das nicht nur für Banker, sondern zum ersten Mal seit Jahrzehnten auch für einfache Jobs.
Fernanda Miller, die eigentlich anders heißt, hat sich noch nicht ganz an das neue Tempo gewöhnt. Die Kellnerin aus Denver im US-Bundesstaat Colorado war im März eine der Ersten, die ihren Job in einer Brauerei verloren. Nun arbeitet sie Überstunden, um die vielen Gäste zu bedienen, die seit Wochen wieder in die Innenstadt strömen.
Ihr Mann fährt derweil für die Fahrdienste Uber und Lyft und hat mehr Kunden als vor der Pandemie. „Es ist unglaublich, wie schnell sich die Welt verändert hat. Vor ein paar Monaten hatten wir keine Arbeit, jetzt haben wir zu viel“, sagt sie.
Der boomende Jobmarkt lässt Erinnerungen an das vergangene Jahr verblassen, als das Land eine kurze und heftige Rezession durchmachte. Der Ausbruch von Covid-19 hatte im März 2020 die Wirtschaft auf beispiellose Weise einbrechen lassen, im zweiten Quartal des vergangenen Jahres sank das Bruttoinlandsprodukt um mehr als 30 Prozent. Die Arbeitslosenquote lag damals bei fast 15 Prozent, fast doppelt so hoch wie zu Zeiten der Finanzkrise.
Doch seit dem Ende der ersten Lockdowns und dem Start des Impfprogramms im Frühjahr erholen sich die USA in spektakulärem Tempo: Im zweiten Quartal dieses Jahres ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) saisonbereinigt und aufs Jahr hochgerechnet um 6,5 Prozent gestiegen, teilte das US-Handelsministerium am Donnerstag mit.
Im ersten Quartal hatte dieser Wert 6,4 Prozent betragen. In den USA werden Wachstumszahlen für die Quartale stets auf das Jahr hochgerechnet. Sie geben damit an, wie sich die Wirtschaft entwickeln würde, wenn das Wachstumstempo ein Jahr lang anhielte. In Europa wird auf diese Methode verzichtet, weshalb die Zahlen nicht unmittelbar miteinander vergleichbar sind.
Die US-Wirtschaft wächst damit so schnell wie seit den 70er Jahren nicht mehr. Besonders bemerkenswert: Die Wirtschaftsleistung der USA hat nun wieder das Niveau vor der Pandemie erreicht – exakt ein Jahr nach dem Einbruch zu Beginn der Corona-Lockdowns. Zum Vergleich: Nach der Finanz- und Bankenkrise 2009 dauerte es zwei Jahre, bis sich die US-Wirtschaft vollständig erholte.
Lieferengpässe bremsen die Produktion
US-Präsident Joe Biden feiert den Aufschwung euphorisch. „Wir haben diese Wirtschaft vom Abgrund zurückgeholt“, sagte er diese Woche vor Fertigungsarbeitern in einer Fabrikhalle in Pennsylvania. „Wir haben die Menschen in der Krise mit Direkthilfen versorgt, Impfdosen in Millionen Oberarme gespritzt, Familien mit Kindern steuerlich entlastet“, sagte Biden und versprach einen „einen langfristigen Boom, der alle Menschen mitnimmt“.
Doch die neuesten Zahlen könnten bereits den Gipfel des Aufschwungs markieren. Die US-Regierung kalkuliert ohnehin damit, dass die Wirtschaft nicht in jedem Quartal bombastisch wachsen kann. „Das Wachstum hat seinen Höhepunkt erreicht, die Wirtschaft wird sich in der zweiten Hälfte dieses Jahres verlangsamen“, erklärte Mark Zandi, Chefökonom bei Moody’s Analytics und Berater der Biden-Regierung, kürzlich. Der Trend ziehe sich bis ins kommende Jahr, wenn das Wachstum weiter zurückgehen werde.
Doch schon der aktuelle Neustart der US-Wirtschaft gestaltet sich schwieriger, als noch im Frühjahr erwartet wurde, an vielen Stellen sind Probleme sichtbar: Vor einigen Wochen schnellte die Zahl der neu gemeldeten Arbeitslosen plötzlich nach oben, dazu bremsen weltweite Lieferengpässe bei Baumaterialien oder Computerchips mancherorts die Produktion.
Schließlich sorgt der Vormarsch der aggressiven Delta-Variante für steigende Covid-Zahlen – und neue Verunsicherung. „Vor Covid-19 war eine Schlüsselfrage, wie die USA eine stabile Wachstumsrate halten können“, analysierte die Washingtoner Denkfabrik Center on Budget and Policy Priorities. „Nun stellt sich jedoch die entscheidende Frage, welche Narben die Rezession von 2020 längerfristig in der Wirtschaft hinterlassen wird.“
Laut Moody’s-Analyst Zandi hängt die künftige Entwicklung des Wachstums „vor allem an der Fiskalpolitik der nächsten 18 Monate. Zuletzt hatte der US-Kongress im März ein knapp zwei Billionen schweres Covid-Nothilfepaket auf den Weg gebracht.
Im September läuft ein Großteil der damit verbundenen Bundesprogramme, etwa für Mieten und Arbeitslosenunterstützung, aus. Ökonomen rechnen damit, dass das eine ganze Reihe von zusätzlichen Arbeitssuchenden in den Jobmarkt bringen wird.

Mehr als vier Billionen US-Dollar umfassen sein „American Jobs Plan“ und „American Families Plan“ – eine Mischung aus Investitionen in Infrastruktur, einer grünen Energiewende und Sozialreformen.
Laut des Internationalen Währungsfonds IWF ist das Paket vom März zentral dafür verantwortlich, dass sich die US-Wirtschaft so schnell erholte. „Beispiellose fiskalische Anreize, insbesondere in den Vereinigten Staaten“, hätten weltweit zum Aufschwung beigetragen, teilte der Fonds diese Woche mit.
Dem IWF zufolge soll die US-Wirtschaft in diesem Jahr um sieben Prozent wachsen, ein Rekordwert. Allerdings basiert diese Prognose auf der Annahme, dass zusätzliche Pakete aus Washington die Konjunktur stützen werden – das ist aber alles andere als garantiert.
Bidens Demokraten und die Opposition der Republikaner steuern im Kongress auf einen Kompromiss zu: Noch im Sommer könnten sie eine überparteiliche Infrastrukturreform in Höhe von 1,2 Billionen US-Dollar verabschieden.
Am Mittwoch nahm der US-Kongress dafür eine wichtige Hürde, die Verhandlungsführer einigten sich auf Rahmenbedingungen, das Weiße Haus sprach von einer „historischen Einigung“. Allerdings ist der Kompromiss weit von dem Volumen entfernt, das Biden ursprünglich versprochen hatte.
Mehr als vier Billionen US-Dollar umfassen sein „American Jobs Plan“ und „American Families Plan“ – eine Mischung aus Investitionen in Infrastruktur, einer grünen Energiewende und Sozialreformen.
Die Konzepte gelten kaum als konsensfähig, weil sie mit Steuererhöhungen finanziert werden sollen. Womöglich wollen die US-Demokraten, die im Kongress nur dünne Mehrheiten halten, neue Billionen auf eigene Faust verabschieden. Doch auch dieses Szenario birgt politische Risiken für Biden. Der IWF räumte ein, dass man die Wachstumsprognose für 2021 wohl nach unten korrigieren müsse, sollten Bidens Pläne scheitern.
Aussicht auf neue Billionenpakete schürt Ängste vor einer Überhitzung
In der Wirtschaft werden neue Investitionen begrüßt. 140 CEOs, darunter von Blackrock, United Airlines und der Kaufhauskette Macy’s, forderten Washington am Montag dazu auf, das parteiübergreifende Infrastrukturgesetz so schnell wie möglich zu verabschieden. Doch gleichzeitig schürt die Aussicht auf neue Billionenpakete Ängste vor einer Überhitzung.
Jerome Powell, Chef der US-Notenbank Federal Reserve (Fed), musste am Mittwoch einräumen, dass die Inflation „deutlich“ über der langfristig anvisierten Marke von zwei Prozent liege und in den kommenden Monaten wohl auch noch weiter steigen werde. Das macht die Effekte der gestiegenen Löhne wieder zunichte. Die Reallöhne sind um zwei Prozent gefallen, wie aus Daten der regionalen Fed in Atlanta hervorgeht.
Eine Abkühlung der Wirtschaft steht bevor. „Mit steigenden Preisen, die auf die Realeinkommen drücken, erwarten wir, dass die Wirtschaft nur noch langsam wachsen wird. Das wird zu einem deutlichen Dämpfer beim Konsum und beim Bruttoinlandsprodukt im dritten Quartal führen“, glaubt Paul Ashworth, Chefökonom bei Capital Economics.
Wie stark sich die leicht übertragbare Delta-Variante auf die Wirtschaft auswirken wird, ist derzeit noch schwer zu sagen. Zuletzt hätten sich steigende Fallzahlen nicht mehr so deutlich auf die Wirtschaft ausgewirkt wie zu Beginn der Pandemie, gab Notenbankchef Powell zu bedenken. „Wir haben gelernt, damit zu leben“, sagte er am Mittwoch und verwies auf Hausbesichtigungen, die bei Bedarf virtuell stattfinden könnten und die ausgebauten Lieferkapazitäten von Restaurants.
Allerdings sei es durchaus denkbar, dass angesichts der steigenden Infektionszahlen die Rückkehr in die Schulen nach den Sommerferien in einigen Regionen verschoben werden könnte. Das wiederum könnte auch Eltern davon abhalten, an den Arbeitsmarkt zurückzukehren.
Neue Covid-Wellen seien nicht nur ein Problem ärmerer Länder auf der Welt, sondern „auch für viele Industriestaaten, in denen sich das Impftempo verlangsamt“, stellte der IWF fest. „Neue, infektiösere Varianten“ bleiben auch in Zukunft ein Risiko für alle Länder, warnt der Fonds.
Dass die USA erneut in den flächendeckenden Lockdown gehen, gilt jedoch als unwahrscheinlich. Dennoch könnte die anhaltende Pandemie das Verbrauchervertrauen und damit das Wachstum zusätzlich dämpfen, befürchten Ökonomen.
Restaurant- und Konzertbesuche sowie Flugreisen und andere Events, bei denen viele Menschen aufeinander treffen, könnten wieder gemieden werden. Das könnte sich erneut auf die Branchen auswirken, die schon im vergangenen Jahr besonders stark von dem Coronavirus betroffen waren.
Mehr: US-Notenbank fährt weiter lockeren Kurs – doch signalisiert erstmals mögliche Änderungen
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.