Greg Hands im Interview Britischer Staatssekretär: „Wir hätten mehr Rücksicht auf die politische und wirtschaftliche Lage in Nordirland erwartet“

Hands sieht die britische Wirtschaft derzeit stärker durch die Corona-Effekte belastet als durch die Brexit-Folgen.
Düsseldorf Der britische Wirtschaftsstaatssekretär Greg Hands plädiert für Änderungen im Austrittsabkommen des Landes mit der EU. „Wenn die Störungen im Handel zwischen Großbritannien und Nordirland so weitergehen, wenn es plötzlich nicht mehr die gleichen Lebensmittel oder Medikamente in Supermärkten in Nordirland gibt wie im übrigen Königreich, dann hat das tiefe wirtschaftliche und politische Auswirkungen“, sagte Hands dem Handelsblatt.
Nach dem Ablauf einer Übergangsphase hatte Großbritannien den EU-Binnenmarkt zu Jahresanfang endgültig verlassen. Um den freien Warenverkehr zwischen der Republik Irland und Nordirland nicht zu beeinträchtigen, hatten sich beide Partner darauf geeinigt, dass die neuen EU-Grenzkontrollen in der Irischen See zwischen Nordirland und Großbritannien stattfinden sollen. Die britische Regierung hat sie derzeit vorläufig außer Kraft gesetzt.
Die Regierung habe bei der Unterzeichnung des Austrittsabkommens nicht erwarten können, dass 20 Prozent aller EU-Grenzkontrollen mit anderen Ländern zwischen Großbritannien und Nordirland vorgenommen werden, sagte Hands. Es sei nicht abzusehen gewesen, dass die Kontrollen „in diesem Umfang und mit dieser Strenge“ kommen würden.
„Wir hätten mehr Flexibilität erwartet und mehr Rücksicht auf die politische und wirtschaftliche Lage in Nordirland.“ Der konservative Politiker wurde bei der Kabinettsumbildung vergangene Woche vom Handelsstaatssekretär zum Wirtschaftsstaatssekretär ernannt.
Hands sieht die britische Wirtschaft derzeit stärker durch die Corona-Effekte belastet als durch die Brexit-Folgen. Die großen Einbrüche im Außenhandel zu Jahresbeginn lagen seines Erachtens vor allem an den Auswirkungen der Coronakrise.
Die Unternehmen hätten sich in den meisten Fällen gut an die neuen Verhältnisse gewöhnt, sagte Hands. Er sorge sich jedoch schon, „dass einige deutsche Unternehmen jetzt zögern, nach Großbritannien zu exportieren, oder es aufgeben. Umgekehrt genauso.“ Er hofft, dass die britische Exportstrategie im Herbst einen Schub geben kann.
Die britische Regierung verhandelt derzeit mit einer Vielzahl von Ländern über Handels- und Investitionsabkommen. Mit der zweitgrößten Volkswirtschaft China sei indes keines geplant, sagte Hands. Die Erfahrungen der EU bei den Verhandlungen sind einer der Gründe.
Lesen Sie hier das gesamte Interview:
Minister Hands, seit neun Monaten ist Großbritannien mit dem Auslaufen der Übergangsfrist wirklich raus aus der EU. Ist es jetzt anders, nach Deutschland zu kommen?
Ein wenig, aber nicht so sehr. Die bilateralen Beziehungen auf Regierungs-, Parlaments- und Landesebene sind in guter Verfassung. Ich glaube, Corona hat viel größere Veränderungen im Verhältnis bewirkt als der Brexit und das Ende der Übergangsphase. Klar, wir sind nicht mehr in Zollunion und Binnenmarkt. Aber die Unternehmen haben sich in den meisten Fällen gut daran gewöhnt.
Der bilaterale Handel hat sich in diesem Jahr unterdurchschnittlich entwickelt…
Die Handelszahlen haben sich wieder verbessert. Die großen Probleme im Januar lagen meines Erachtens vor allem an Covid. Im Januar waren die Grenzen ja eine Woche wegen Covid völlig zu. Seit Februar sehen wir eine stetige Erholung der Handelszahlen. Bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen ist es noch schwierig, ein Urteil zu fällen. Das Minus ist hoch im Vergleich zu 2019, aber da ist der Grund noch unklar. Der Personenverkehr war ja auch sehr von Covid beeinträchtigt. Aber wir können noch an einer weiteren Erholung der Handelsbeziehungen arbeiten.
Was kann die Politik tun?
Ich glaube, die meisten Unternehmen haben sich an die neuen Umstände gewöhnt. Einige Unternehmen aber brauchen noch ein wenig mehr Unterstützung und Ermutigung zu exportieren. Mich sorgt schon, dass einige deutsche Unternehmen jetzt zögern, nach Großbritannien zu exportieren, oder es aufgeben. Umgekehrt genauso. Wir müssen darum kämpfen, dass etwa junge britische Start-ups, die sich jetzt nach Exportmärkten umschauen, Deutschland und Europa als ihr erstes Ziel erwägen. In diesem Herbst kommt die neue britische Exportstrategie. Vielleicht kann sie auch bei einer Belebung helfen.
Sind die Bilder der leeren Regale und die fehlenden polnischen Lastfahrer kein Reputationsrisiko für das ganze Brexit-Projekt?
Ehrlich gesagt: Ich sehe die Bilder leerer Regale auch in den sozialen Kanälen, aber in den Supermärkten, in die ich gehe, sehe ich die leeren Regale nicht. Ich glaube, die Lage wird übertrieben dargestellt. Es hat wegen Covid Probleme gegeben, besonders während unserer „Pingdemic“ im Juli wegen des Arbeitskräftemangels in wichtigen Branchen. Das hat viel mit Covid zu tun – und wenig mit Brexit oder dem Ende der Übergangsphase.
Die Diskussionen mit der EU über Nordirland halten an. Verstärkt das nicht die Unsicherheit der Wirtschaft?
Wir sollten pragmatisch sein. Wir haben ein Austrittsprotokoll, aber wir dürfen nicht vergessen, wie wichtig Frieden und Wohlstand in Nordirland sind. Wenn die Störungen im Handel zwischen Großbritannien und Nordirland so weitergehen, wenn es plötzlich nicht mehr die gleichen Lebensmittel oder Medikamente in Supermärkten in Nordirland gibt wie im übrigen Königreich, dann hat das tiefe wirtschaftliche und politische Auswirkungen. Das Wichtigste ist der mit dem Karfreitagsabkommen 1998 geschlossene Friedensprozess. Ich war 1994 zum ersten Mal in Nordirland. Da herrschte ein Waffenstillstand, der aber nur ein paar Monate anhielt. 23 Jahre Frieden in Nordirland zu erhalten ist eine große Errungenschaft.
Aber die Probleme waren doch bereits absehbar, als die britische Regierung das Austrittsabkommen unterzeichnet hat. War die Unterzeichnung naiv?
Niemand hätte damals erwarten können, dass 20 Prozent aller Grenzkontrollen des EU-Binnenmarkts mit anderen Ländern zwischen Großbritannien und Nordirland vorgenommen werden. EU–USA, EU–China, EU–Russland – da war nicht abzusehen, dass die Kontrollen in diesem Umfang und mit dieser Strenge zwischen Nordirland und Großbritannien kommen werden. Wir hätten mehr Flexibilität erwartet und mehr Rücksicht auf die politische und wirtschaftliche Lage in Nordirland. Wir haben ja auch sehr viel Flexibilität gezeigt: Welches andere souveräne Land erlaubt Grenzkontrollen zwischen Landesteilen seines Staatsgebiets?
Verstehen Sie Vorwürfe, dass die britische Regierung die damals schon offensichtlichen Probleme nun im Nachhinein auszusitzen oder nachträglich abzuändern versucht?
Das ist keine rein juristische Frage hier. Wichtig ist, was in Nordirland vor Ort passiert, in den Häfen, in den Supermärkten. Wir dürfen nicht vergessen: Nordirland macht mehr Handel mit Großbritannien als mit der Republik Irland, der ganzen EU, ja dem ganzen Rest der Welt zusammen. Diese wirtschaftliche Verbindung zwischen Nordirland und Großbritannien ist sehr, sehr wichtig. Und eben nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die unionistische Gesellschaft. Brüssel muss die unionistische Gemeinschaft besser verstehen. Wir müssen das Austrittsprotokoll deshalb anpassen. Mit ein bisschen Flexibilität und Pragmatismus können wir da eine Lösung finden, glaube ich.
Schauen wir auf die globale britische Handelsstrategie: Was sind Ihrer Ansicht nach die wichtigsten Abkommen, um die großen Handelsambitionen nach dem EU-Austritt zu erreichen?
2019 haben wir gesagt, dass wir innerhalb von drei Jahren 80 Prozent des britischen Handels mit Freihandelsabkommen abdecken wollen. Da gehört die EU zu, aber auch die USA, wo wir auf die neue Handelspolitik der Handelsbeauftragten Katherine Tai warten. Wir hoffen sehr auf ein Freihandelsabkommen mit den USA, unserem wichtigsten Handelspartner.
Dann hätten Sie der EU etwas voraus…
Da geht es nicht um die Konkurrenz zur EU. Es wäre eine riesige Win-win-Situation für die USA und für Großbritannien. Wir wären für die USA die größte einzelne Volkswirtschaft, mit der die USA ein Handelsabkommen hätten.
Und über die USA hinaus?
Mit Australien werden wir das Abkommen, auf das wir uns geeinigt haben, im Herbst unterzeichnen. Wir hoffen, uns bald mit Neuseeland zu einigen. Aber zu unseren großen Zielen zählt, in Asien der Freihandelszone CPTPP beizutreten. Wir hoffen, nach den elf Gründungsländern als erstes neues Land einzutreten. Die Verhandlungen haben im Juli begonnen und werden wahrscheinlich im kommenden Jahr beendet werden. Zudem wollen wir unsere Handelsabkommen mit Kanada und Mexiko vertiefen. Auch mit der Türkei, Israel und Korea verhandeln wir. Mit Singapur ebenfalls über ein Abkommen für die digitale Wirtschaft. Es ist ordentlich was los in unserem Ministerium.
Welche Wirtschaftseffekte erwarten Sie von den noch ausstehenden Handelsabkommen?
Auch wenn wir zu jedem Abkommen eine Abschätzung der wirtschaftlichen Folgen vorlegen werden, sind die genauen Effekte immer schwierig mit einzelnen Modellen abzuschätzen. Wichtiger ist mir die generelle Liberalisierung der britischen Handelspolitik. Das EU-Japan-Abkommen etwa haben wir in unseren Verhandlungen an einigen Stellen verbessert, wie bei Daten und Digitaldaten.
Wie sieht es mit China aus? In der EU liegt das Investmentabkommen mit der zweitgrößten Volkswirtschaft gerade auf Eis…
Ich habe mir angeschaut, wie es mit der EU und China gelaufen ist. Wir haben keine Absicht, ein Handelsabkommen mit China zu verhandeln.
Würde es Sie stören, wenn China ebenfalls der asiatischen Freihandelszone CPTPP beiträte?
Das ist eine Entscheidung der CPTPP-Mitglieder zum Zeitpunkt eines chinesischen Antrags. Ich denke, im Moment ist es unwahrscheinlich, dass China beitritt. Die Regeln der CPTPP sind sehr streng. Zudem hätte jedes Mitglied der CPTPP ein Vetorecht. Uns ist es wichtig, dass wir das erste neue Mitglied werden.
Minister Hands, vielen Dank für das Interview.
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Rücksicht einfordern, aber selbst keine Rücksicht nehmen. Der Opportunismus der Tories ist bemerkenswert.