Großbritannien Dem britischen Premier Johnson gehen die Tricks aus

In der Summe können die Vorwürfe seinen Nimbus als Siegertypen beschädigen.
Berlin Vor Kurzem galt Boris Johnson noch als der „Teflon Man“ der britischen Politik – als ein Mann, an dem politische Krisen keinerlei Spuren hinterlassen. Ob Hamsterkäufe an den Tankstellen, lange Schlangen in den von der Coronapandemie überlasteten Krankenhäusern, steigende Energiepreise, leere Supermarktregale oder gewalttätige Proteste in Nordirland – der britische Premier machte für die Negativschlagzeilen der vergangenen Wochen immer jemand anderen verantwortlich. Und oft zeigte er dabei in Richtung Brüssel.
Selbst das dürftige Ergebnis des Klimagipfels in Glasgow vom Wochenende feierte Johnson als „Gamechanger“ und „einen großen Fortschritt“, nachdem er zuvor die Welt noch in James-Bond-Manier vor dem Untergang retten wollte.
Zurück von der Weltbühne, holen den britischen Premierminister in London jetzt nicht nur die alten Probleme ein, auch die Gesetze der politischen Schwerkraft scheinen jetzt ihre Wirkung zu entfalten. In zwei Meinungsumfragen vom Wochenende liegen Johnsons konservative Tories erstmals seit Januar hinter der Labour-Partei. Und ausgerechnet die „Daily Mail“, Herzblatt der Konservativen, sieht die Opposition sogar sechs Punkte vor der Regierungspartei des Premierministers.
Grund für den dramatischen Stimmungsumschwung ist eine Schmiergeldaffäre, die so ansteckend wie das Coronavirus scheint und sich bei den Tories genauso schnell ausbreitet. Angefangen hat alles mit Ermittlungen gegen den Tory-Abgeordneten und ehemaligen Umweltminister Owen Paterson, der seinen politischen Status missbraucht haben soll, um geschäftliche Interessen zu befördern.
Um eine mehrwöchige Suspendierung seines Parteifreunds zu verhindern, wollte Johnson kurzerhand die Ethikregeln des Parlaments in Westminster ändern, musste nach massiven Protesten jedoch zurückrudern. Gestern musste er sein Vorhaben offiziell wieder einsammeln.
„Wir sind nun an Tag elf des Skandals angekommen, und die Affäre klebt an Johnson wie eine Klette“: Die besagte „Daily Mail“ zog am Wochenende den Fraktionsvorsitzenden der Tories, Jacob Rees-Mogg, mit in den Korruptionssumpf und warf ihm vor, einen zinsgünstigen Kredit von sechs Millionen Pfund von einer seiner Firmen nicht offengelegt zu haben.
Damit steht das erste Mitglied aus Johnsons Kabinett am öffentlichen Pranger, und die nervös gewordenen Hinterbänkler der Konservativen fragen sich, ob ihr Premier die Lage noch im Griff hat. Zumal sich auch Johnson selbst unangenehme Fragen gefallen lassen muss, ob er Ämter und Privates bei Urlaubsreisen, überteuerten Renovierungen seiner Dienstwohnung und im Liebesleben während seiner Zeit als Londoner Bürgermeister immer sauber getrennt hat.
Ein neuer Brexit-Streit mit der EU als letztes Ass im Ärmel
Jeder einzelne Vorwurf mag in sich nicht genug politische Sprengkraft bergen, um dem Premier gefährlich werden zu können. In der Summe können die Vorwürfe jedoch seinen Nimbus als Siegertypen beschädigen und den Tories das gefährliche Image einer verfilzten Partei anheften. Labour-Führer Keir Starmer, der sich bislang vergeblich bemüht hat, Johnson ins Stolpern zu bringen, dürfte sein Glück kaum fassen.
Man darf gespannt sein, mit welchen Münchhausen-Tricks Johnson diesmal versuchen wird, sich aus dem politischen Sumpf zu ziehen. Bislang hat er seine Kritiker entweder ignoriert oder, wenn es gefährlich wurde, den Rückzug angetreten. Die Kehrtwende in der Korruptionsaffäre ist ein Beispiel dafür. Nur reicht das für einen Befreiungsschlag diesmal offenbar nicht aus.
In höchster Not zieht der 57-jährige Johnson gern den Brexit als letztes Ass aus dem Ärmel. Ein Handelsscharmützel mit der EU über Nordirland könnte helfen, die Reihen bei den Tories wieder zu schließen. Dessen sicher sein kann Johnson sich allerdings nicht. Die wirtschaftlichen Folgen eines Handelskonflikts würden die wirtschaftlichen Kosten des Brexits weiter in die Höhe treiben.
Das unabhängige Office for Budget Responsibility (OBR) hat gerade vorausgesagt, dass der Austritt aus der EU das britische Bruttoinlandsprodukt mit einem Minus von vier Prozent langfristig doppelt so schwer treffen wird wie die Pandemie.
Gut möglich also, dass Johnsons Brexit-Ass nicht mehr lange bei den britischen Wählern sticht – und sein politischer Bluff auffliegt.
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