Großbritannien „Kurzsichtig und kleingeistig“ – Abgeordnete greifen Boris Johnson für Afghanistan-Politik an

Der Premierminister hatte bei seiner Regierungserklärung mit Kritik aus den eigenen Reihen zu kämpfen.
London Boris Johnson bekam in einer Afghanistan-Sondersitzung des britischen Parlaments am Mittwoch den geballten Unmut der Abgeordneten zu spüren. Erstmals seit Beginn der Corona-Pandemie war das Unterhaus wieder bis auf den letzten Platz gefüllt. Und der Premierminister fand sich darin weitgehend isoliert wieder. Parteiübergreifend kritisierte ein Redner nach dem anderen den verpatzten Abzug aus Afghanistan – und auch Johnson persönlich.
Seitdem die afghanische Hauptstadt Kabul am Sonntag in die Hände der Taliban gefallen ist, brodelt es in Großbritannien. Die britische Armee war einer der wichtigsten Nato-Partner in Afghanistan. Mehr als 150.000 britische Soldaten haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten dort gedient, 475 davon haben den Einsatz mit ihrem Leben bezahlt. Auch mehrere Abgeordnete haben früher an der Seite des afghanischen Militärs gekämpft.
Entsprechend groß ist nun das Gefühl, versagt zu haben – und gegenüber den Afghanen eine Verantwortung zu tragen.
Der Premierminister hatte seine Regierungserklärung kaum begonnen, da kam schon der erste Zwischenruf. Es dürfe niemand in Afghanistan zurückgelassen werden, forderte der konservative Abgeordnete John Baron.
In dem Ton ging die Debatte weiter. Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, der Konservative Tobias Ellwood, forderte eine offizielle Untersuchung des chaotischen Abzugs. Andere nannten die Entscheidung „beschämend“.
Theresa May attackiert Nachfolger Johnson
Ex-Premierministerin Theresa May bezweifelte offen Johnsons Erklärung, dass die Geheimdienste vom Siegeszug der Taliban überrascht wurden. „Waren unsere Geheimdienstinformationen wirklich so schlecht?“, fragte sie. Oder sei man nur den Amerikanern gefolgt, in der Hoffnung, dass es schon irgendwie gutgehen werde?
May nannte den Abzug einen „großen Rückschlag“ für die britische Außenpolitik. „Wir reden immer von Global Britain“, sagte sie. „Wo ist Global Britain auf den Straßen von Kabul? Wir werden an unseren Taten gemessen, nicht an unseren Worten.“

Der Oppositionsführer ging mit Johnson hart ins Gericht.
Am schärfsten ging Labour-Oppositionsführer Keir Starmer mit Boris Johnson ins Gericht. Der damalige US-Präsident Donald Trump habe den Abzug vor 18 Monaten verkündet, sagte er. „Wir hatten 18 Monate Zeit zu planen. Die Probleme waren seit 18 Monaten bekannt.“ Als amtierender Vorsitzender der G7-Gruppe sei Johnson in der Position gewesen zu führen. „Aber er hat es nicht getan. Was hat er stattdessen getan? Er hat die Entwicklungshilfe gekürzt.“
Johnson sei „kurzsichtig, kleingeistig und eine Bedrohung für die nationale Sicherheit“, resümierte Starmer. Er erklärte auch das Flüchtlingsprogramm der Regierung für unzureichend.
Großbritannien will langfristig bis zu 20.000 zusätzliche Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen. 5000 davon sollen bis Ende des Jahres ausgeflogen werden, der Rest erst im Laufe der kommenden Jahre. Besonders Frauen und Kindern solle eine Zuflucht gegeben werden, sagte Johnson.
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Das neue Programm ergänzt ein Umsiedlungsprogramm für afghanische Ortskräfte, die mit den Briten zusammengearbeitet haben. Seit dessen Start im Dezember 2020 wurden rund 2000 Ortskräfte nach Großbritannien gebracht. Diese Zahl soll bis Ende des Jahres auf 5000 steigen. Zusammen mit dem neu angekündigten Programm für weitere Flüchtlinge will Großbritannien dieses Jahr also 10.000 Afghanen aufnehmen.
Oppositionsführer Starmer sagte, es reiche nicht aus, „langfristig“ 20.000 aufzunehmen, denn so viel Zeit hätten die Betroffenen nicht. Er fragte, wieso man dieses Jahr nur 5000 aufnehmen könne. „Warum müssen die anderen so lange warten?“ Sein Parteifreund Chris Bryant wurde noch deutlicher: „Was sollen die 15.000 tun? Abwarten, bis sie hingerichtet werden?“
Johnson sagte, er sei sich mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron einig, dass Flüchtlinge vor allem in der Region um Afghanistan untergebracht werden sollen. Zu diesem Zweck verdoppele Großbritannien die Entwicklungshilfe für Afghanistan in diesem Jahr auf 286 Millionen Pfund.
Johnson verteidigt Abzug als alternativlos
Dennoch hatte der Premier einen schweren Stand. Ihm hat nicht geholfen, dass er und sein Stellvertreter, Außenminister Dominic Raab, im Urlaub weilten, als die Taliban in Kabul einrollten. Johnson kehrte am Wochenende vorzeitig aus Cornwall zurück, Raab brach seinen Urlaub auf Kreta ab, wo er noch am Sonntag am Strand gesichtet worden war.
Als Starmer im Parlament Raabs Urlaub kritisierte, fragte der zurück, was Starmer denn anders gemacht hätte. „Ich wäre nicht in den Urlaub gefahren, während Kabul fällt“, konterte der Labour-Chef. „Man kann eine internationale Antwort nicht vom Strand aus koordinieren.“
Johnson verteidigte den Abzug der britischen Truppen als alternativlos. Demnach habe sich die Regierung alle Optionen angeschaut, auch die Möglichkeit, nach dem Abzug der USA noch länger zu bleiben, sagte er. Aber der Westen habe diese Mission ohne amerikanische Logistik und Luftunterstützung nicht weiterführen können.
Es sei eine Illusion zu glauben, die anderen internationalen Partner wollten militärisch präsent bleiben, so der Premier bei der Debatte. Es sei keine Option, erneut Zehntausende Soldaten nach Afghanistan zu schicken. „Wir müssen mit der Situation umgehen, wie sie jetzt ist.“
Johnson gab sich hoffnungsvoll, dass die Evakuierung von Briten, Ortskräften und anderen Flüchtlingen nun schnell vorangehen werde. Die Lage am Flughafen habe sich stabilisiert, die Taliban erlaubten die Evakuierung.
Er forderte gleichwohl andere westliche Länder dazu auf, die neue Taliban-Regierung in Kabul noch nicht anzuerkennen. Erst müsse man abwarten, wie sich die Taliban verhielten, sagte er. Man werde dieses Regime an seinen Taten messen, nicht an seinen Worten.
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