Indiens Premierminister Modis Inszenierung als großer Wirtschaftsreformer passt nicht mehr zur Realität

Kurz vor der Parlamentswahlen trüben schlechte Arbeitsmarktdaten sowie wenig Investitionen die Bilanz von Indiens Premierminister.
Ahmedabad Narendra Modis gigantisches Nationaldenkmal macht sich bereits in zehn Kilometer Entfernung am Horizont bemerkbar. Mit ihren 182 Meter Höhe überragt die Sardar-Patel-Statue am Ufer des Narmada-Flusses in Gujarat nicht nur jedes Hochhaus im Heimatstaat des indischen Regierungschefs.
Das vor einem halben Jahr eröffnete Beton- und Stahl-Monument gilt auch als die höchste Statue der Welt. Ein Poster im Eingangsbereich erinnert voller Stolz daran, dass die New Yorker Freiheitsstatue auf lediglich die halbe Höhe kommt.
„Statue der Einheit“ hat Modi das umgerechnet rund 300 Millionen Dollar teure Bauwerk genannt. Er hat es bereits im Jahr 2010 in Auftrag gegeben, als er noch Ministerpräsident von Gujarat war.
Die Statue zu Ehren der indischen Freiheitsikone nutzt der Regierungschef, um sich selbst als historische Figur zu präsentieren: Während Patel Indien im Rahmen der Unabhängigkeitserklärung vereint habe, lasse seine Regierung nun das Land mithilfe einer Steuerreform zusammenrücken, sagte Modi bei der Einweihung.
Er spielt damit auf die wichtigste wirtschaftspolitische Änderung seiner Amtszeit an: die Einführung der landesweiten Umsatzsteuer GST, die einen Flickenteppich aus lokalen Steuern ersetzte. In einem kleinen Park neben der Patel-Statue ließ Modi die Reform in Form einer Skulptur verewigen: Zwei überdimensionale Hände recken die Buchstaben GST Richtung Himmel.
Doch Modis Selbstinszenierung als Indiens großer Wirtschaftsreformer passt wenige Wochen vor der Parlamentswahl kaum noch zur Realität. Schlechte Arbeitsmarktdaten trüben seine Bilanz. Auch Investitionen fallen verhalten aus, und Modis Kritiker werfen ihm vor, Wirtschaftspolitik vor allem für Milliardäre zu machen.
Die Opposition wittert ihre Chance: Sie glaubt, Modi, der lange Zeit als unbesiegbar galt, doch noch schlagen zu können – und greift ihn in seiner Heimat an.
Es ist ein heißer Tag im Süden Gujarats. Asha Singh schützt sich mit einem Kopftuch vor der Sonne. Sie ist zusammen mit einer Frauengruppe bereits früh morgens gut eine Stunde lang in das Dorf Lal Dungri gereist, um den Mann zu sehen, der ihr Hoffnung gibt: Rahul Gandhi, der Spitzenkandidat der oppositionellen Kongresspartei.
Singh hat sich einen weißen Schal mit dem Kongresslogo – einer erhobenen rechten Hand – um den Hals gebunden. Sie nimmt im Schneidersitz auf einer grünen Plane Platz, auf der wenig später Zehntausende dem Oppositionsführer zujubeln werden.
Singh arbeitet bei einem Staatsbetrieb und berät Kunden beim Kauf von Lebensversicherungen. „Ich habe einen guten Job“, sagt sie. „Aber ich mache mir große Sorgen wegen der Arbeitslosigkeit unter der Modi-Regierung.“
Als sich Modi 2014 um das Amt des Premierministers bewarb, verwies er auf seine Erfolge in Gujarat, das als ein Lieblingsstandort unter ausländischen Investoren galt.
Er setzte sich als Mann der Wirtschaft in Szene und versprach, Fabriken ins Land zu holen und jedes Jahr zehn Millionen neue Jobs zu schaffen. Doch auf eine anfängliche Euphorie folgte Ernüchterung. Die ausländischen Direktinvestitionen sinken von Jahr zu Jahr – 2016 waren es noch 44 Milliarden Dollar, 2018 sind es nur noch 38 Milliarden Dollar.
Für Unmut sorgte unter anderem Modis umstrittene Bargeldreform: Im November 2016 erklärte er über Nacht 90 Prozent des im Umlauf befindlichen Bargeldvolumens für ungültig. Doch um die Scheine auszutauschen, fehlte der Nachschub. Wochenlang versank Indiens Wirtschaft im Chaos. Das erklärte Ziel, Schwarzgeld zu bekämpfen, erreichte die Regierung nicht. Fast jede alte Rupie floss in das System zurück.
Am Arbeitsmarkt läuft es kaum besser. Daten der Statistikbehörden, die erst bekannt wurden, als sie Anfang des Jahres an die Medien durchgestochen wurden, zeigen: Die Arbeitslosenquote liegt auf Rekordniveau – zumindest seit dem Beginn vergleichbarer Aufzeichnungen in den 70er-Jahren. Besonders besorgniserregend ist die Lage junger Inder: Fast jedem fünften gelingt es nicht, Arbeit zu finden.
Gandhi sieht Chancen
Für Modis Kontrahenten Gandhi sind diese Zahlen die perfekte Wahlkampfhilfe. Er reist mit dem Hubschrauber zu dem staubigen Feld, das seine Partei in ein Wahlkampfstadion für 100.000 Besucher umgebaut hat. Der Erbe von Indiens bekanntester Politikerdynastie kommt an einen traditionsträchtigen Ort: In Lal Dungri haben bereits seine Großmutter Indira, sein Vater Rajiv und seine Mutter Sonia Gandhi Wahlkampfreden gehalten.
Nun will sich hier der Mann, den seine Anhänger Rahulji nennen, als derjenige präsentieren, auf den sich die Verlierer von Modis Politik verlassen können. Modi helfe nur seinen reichen Freunden, brüllt Gandhi in die Menge. Die Bauern und die Armen müssten hingegen ganz für sich alleine kämpfen. „Wenn wir an die Macht kommen, dann wird es ein garantiertes Grundeinkommen für die Armen geben“, verspricht der Kandidat.
Die Menge tobt, eine Frau drückt Gandhi einen Kuss ins Gesicht. Gandhi weiß, dass er mit seiner Kritik einen wunden Punkt trifft. Ende vergangenen Jahres hat seine Partei bei Regionalwahlen in den Bundesstaaten Chhattisgarh, Madhya Pradesh und Rajasthan bereits überraschende Wahlsiege gegen Modis hindu-nationalistische Partei BJP verbuchen können.
In landesweiten Meinungsumfragen vor der Parlamentswahl, die am 11. April beginnt, liegt Modi zwar vorn, verliert den Prognosen zufolge aber seine absolute Mehrheit. Die Kongresspartei fühlt sich im Aufwind und verweist darauf, dass Modi selbst in seinem Heimatstaat Niederlagen drohen: 2014 gewann seine Partei hier noch jeden einzelnen Parlamentssitz.
Nun liegt die Kongresspartei laut Umfragen in zehn von 26 Wahlkreisen vorne. Dabei hat sich an Gujarats positiven Rahmenbedingungen, für die sich die BJP-Regierung verantwortlich fühlt, nichts verändert: Der Staat ist bekannt für seine vergleichsweise effiziente Verwaltung und gute Infrastruktur.
Sogar die Asphaltstraße, die zu Gandhis ländlichem Wahlkampfort führt, ist so gut ausgebaut, dass die Autos mit knapp 100 Stundenkilometern fahren können. Und die benachbarten Fabriken können sich darauf verlassen, dass der Strom 24 Stunden am Tag aus der Leitung kommt.
Für Manoj Kumar ist das sogar der entscheidende Standortvorteil. Die Fabrik, die er als Indienchef des baden-württembergischen Kunststoffherstellers Röchling, in Gujarats drittgrößter Stadt Vadodara betreibt, läuft rund um die Uhr. Sie produziert sieben Tage in der Woche Polypropylen-Platten unter anderem für die chemische Industrie.
„In anderen Bundesstaaten muss man damit leben, dass man an manchen Tagen nur mit dem eigenen Generator weiterarbeiten kann“, sagt er. „Das würde bei unserer energieintensiven Arbeit die Kosten stark nach oben treiben.“
Röchling eröffnete seine Fabrik in Gujarat 2014 – in dem Jahr, als Modi Premierminister wurde. Für das Unternehmen ist es seither gut gelaufen. Das Werk ist schnell an seine Kapazitätsgrenzen gestoßen. Das mittelständische Unternehmen hat deshalb gleich ein weiteres Produktionsgebäude errichtet, das Anfang März eröffnet wurde. Die 2,5-Millionen-Euro-Investition verdreifacht die Kapazität.
Eine weitere Investition von fünf Millionen Euro hat die Firmenzentrale in Mannheim bereits in Aussicht gestellt. „Wir werden in den kommenden Monaten weitere Produktionslinien eröffnen“, sagt Kumar. „Wir wachsen in jedem unserer Geschäftsbereiche kräftig.“
BASF ist engagiert
Modi war angetreten, das Gujarat-Modell auf ganz Indien zu übertragen. Doch das Modell selbst steht massiv in der Kritik. Zuletzt bemängelte sogar eine der Führungsfiguren der wirtschaftspolitischen Regierungsdenkfabrik Niti Aayog, dass Gujarat zwar gute Arbeit für Industrie und Infrastruktur leiste, in sozialen Fragen aber hinterherhinke.
Die Klagen über Modis Kurs stellen auch eines der größten deutschen Investitionsvorhaben in Indien vor eine unsichere Zukunft. Der Chemiekonzern BASF hat Anfang des Jahres eine Grundsatzvereinbarung mit dem Mischkonzern des indischen Milliardärs Gautam Adani über ein Gemeinschaftsunternehmen in Gujarat geschlossen. Den Plänen zufolge wollen die beiden Partner gemeinsam zwei Milliarden Euro investieren.
Von Modis BJP erhielten solche Großprojekte in der Vergangenheit tatkräftige Unterstützung. Doch Vertreter der Opposition machen klar, dass sich das bei einem Machtwechsel ändern könnte. Manish Doshi ist als Sprecher der Kongresspartei in Gujarats Nachrichtensendungen eines der bekanntesten Gesichter.
Im Gespräch mit dem Handelsblatt attackiert er den Geschäftspartner von BASF: Adani profitiere von seinen Beziehungen zu der seiner Meinung nach korrupten BJP-Regierung, sagt Doshi. Die Kongresspartei wolle die Politik stoppen, die nur den Reichen nützt.
Großinvestitionen wie die von BASF wären zwar prinzipiell auch unter einer Kongressregierung nach wie vor willkommen, sagt er. „Aber nur, wenn sie auch wirklich den Menschen in Gujarat helfen, nicht wenn es nur um die Interessen der Industriellen geht.“
Dass sich untere Bevölkerungsschichten in Modis Gujarat abgehängt fühlen, ist inzwischen auch an Modis Riesenstatue ein Thema. Seit der Eröffnung im Oktober kamen rund 800 000 Touristen zu dem Denkmal. Mit dem Aufzug können die Besucher auf eine Aussichtsplattform auf Brusthöhe fahren – mit bestem Blick auf die benachbarte Sardar-Sarovar-Talsperre.
Doch Anfang März mussten die Besucher zeitweise am Boden bleiben: Rund 100 Bedienstete der Attraktion, darunter Gärtner und Liftboys, streikten. Sie protestierten gegen ausgebliebene Gehälter und zu niedrige Löhne. Umgerechnet 70 Euro pro Monat gingen bei Servicekräften ein. Sie einigten sich dann mit dem Betreiber auf einen Monatslohn von 105 Euro.
Zuvor hatten sie eine Menschenkette um die Einheitsstatue gebildet. Einen geeinten Eindruck machte Indien in diesem Moment nicht.
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