Irlands Vizepremier Leo Varadkar im Interview: Nach Brexit könnte Wettbewerb zur Regel werden
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InterviewIrlands Vizepremier: „Wir stehen jeden Tag vor neuen, seltsamen Problemen“
Der Streit mit Großbritannien über Impfstoffe und Grenzkontrollen ist erst der Anfang, fürchtet Irlands Vizepremier Leo Varadkar. Der Wettbewerb werde nun zur Regel.
Da Irland Großbritanniens direkter Nachbar ist, ist das Land von allen EU-Ländern am stärksten vom Brexit betroffen. Deshalb hat Varadkar Interesse an gütlichen Lösungen.
Auch der aktuelle Konflikt um die Impfstoffe ist für den konservativen Politiker ein Zeichen, dass durch den Brexit etwas zerbrochen ist. „Der Brexit wird immer wieder zu Schwierigkeiten führen“, sagt Varadkar im Handelsblatt-Interview. "Das haben wir im Streit um die Impfstoffe bereits gesehen. Dieser Wettbewerb zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich wird von nun an zur Regel, nehme ich an. Und Irland sitzt leider in der Mitte.“
Als direkter Nachbar Großbritanniens ist Irland von allen EU-Ländern am stärksten vom Brexit betroffen. Deshalb hat Varadkar ein Interesse an gütlichen Lösungen. „Es ist absolut in unserem Interesse, so wenig Reibung wie möglich zwischen Großbritannien und Irland zu haben“, sagt er zur Frage, ob manche EU-Grenzkontrollen unnötig seien. In Konflikten stehe Irland aber klar an der Seite der Europäer. „Wir sind Teil von Team27.“
Er verteidigt auch die niedrige Unternehmensbesteuerung in Irland, die dem Land immer wieder Kritik aus der EU einträgt. Man sei offen für eine OECD-Lösung, um sicherzustellen, dass große Konzerne ihre Steuern irgendwo zahlen, sagt er. Aber eine rein europäische Lösung lehnt er ab.
Lesen Sie hier das gesamte Interview:
Die irische Wirtschaftsleistung wuchs trotz Corona 3,4 Prozent im vergangenen Jahr – einsamer Europarekord. Wie kam das? Das Wachstum konnten wir erzielen, weil wir einige starke Exportsektoren haben, die in der Pandemie gut abgeschnitten haben. Wir sind ein großer Hersteller von Pharmaprodukten und Medizintechnik, und wir haben die großen Techfirmen.
Dieses Jahr dürfte es schwieriger werden, weil Irland nach Großbritannien am härtesten vom Brexit getroffen wird. Welche Auswirkungen sehen Sie bereits? Verglichen mit Corona sind die Brexit-Folgen bisher geringer. Das liegt vor allem am Nordirlandprotokoll im EU-Ausstiegsvertrag, welches sicherstellt, dass es keine Störungen im Handel zwischen Irland und Nordirland gibt. Außerdem garantiert das Freihandelsabkommen, dass es keine Zölle und Quoten im Handel zwischen Irland und Großbritannien gibt. Aber es gibt natürlich mehr Bürokratie.
Können Sie ein paar Beispiele nennen? Wir mahlen kein Mehl in Irland, es kommt aus Großbritannien. Theoretisch sollte das kein Problem sein, weil der Handel ja zollfrei ist. Aber ein Großteil des Getreides, das in Großbritannien gemahlen wird, kommt aus Kanada. Das ist aufgrund der Ursprungsregeln ein Problem. Das Gleiche gilt für Cornflakes. Die kommen aus Spanien, werden in Großbritannien verpackt und gehen dann nach Irland. Wir stehen jeden Tag vor einem neuen, seltsamen Problem.
Die Statistiken sind dramatisch: Die britischen Exporte nach Irland sind im Januar um 65 Prozent eingebrochen. Ein Teil des Rückgangs im Januar hat mit der Lagerbildung im Dezember zu tun. Wir benutzen auch weniger die Landbrücke durch Großbritannien. Es gibt jetzt drei- bis viermal so viele direkte Fährverbindungen von Irland nach Frankreich und in die Niederlande. Ein Teil des Volumens hat sich also verlagert. Wie sich der Brexit langfristig auf den Handel auswirkt, wissen wir noch nicht. Da werden wir in den kommenden Monaten ein besseres Bild bekommen.
Irische Exporte haben weniger gelitten, weil Großbritannien die Grenze bisher noch nicht kontrolliert – und den Start gerade um sechs Monate verschoben hat. Was passiert dann? Wir sind erleichtert, weil die Kontrollen für uns zweifellos negative Folgen haben werden. Es gibt uns mehr Zeit zur Vorbereitung. Zugleich ist es frustrierend für Unternehmen, dass Deadlines gesetzt werden, sie sich darauf einstellen, und dann wird wieder verschoben. Wir arbeiten eng mit der Wirtschaft zusammen. Unternehmen können Fördermittel für Zollexperten beantragen, denn diese Qualifikationen werden sie brauchen.
Vita
Leo Varadkar, 42, ist seit Sommer 2020 Vize-Ministerpräsident und Wirtschaftsminister in der Koalition unter Micheal Martin. Zuvor war der konservative Politiker drei Jahre lang selbst Regierungschef.
Der Ire war einer der wichtigsten Akteure in den Brexit-Verhandlungen. 2019 vereinbarte er mit dem britischen Premier Boris Johnson die Zollgrenze in der Irischen See.
Sie haben die neuen Seerouten schon erwähnt. Wie wichtig wird die Landbrücke durch Großbritannien künftig überhaupt noch sein? Die Landbrücke wird wichtig bleiben. Deshalb ist uns an einem Arrangement gelegen, das es uns erlaubt, schnell durch England zu kommen. Wir reden ja sogar von zwei Landbrücken hier: England ist die Landbrücke zwischen Irland und dem europäischen Festland. Und Irland ist wiederum der schnellste Weg, um Waren von England nach Nordirland zu bringen. Wir haben daher ein gegenseitiges Interesse daran, jegliche Störungen der Lieferketten zu vermeiden.
Der Brexit hat nicht nur negative Folgen. Dublin kann sich nun leichter als Tor zur EU vermarkten, nachdem London diese Rolle nicht mehr spielt. Wie wollen Sie das ausnutzen? Es gibt viele Tore in die EU. Wir stehen im Wettbewerb mit Amsterdam, Frankfurt, Paris und Luxemburg. Sie liegen näher am Zentrum Europas, gegen diesen Vorteil können wir wenig machen. Aber wir sind englischsprachig, wir haben ein Common-Law-System, und wir haben eine sehr ähnliche Unternehmenskultur wie die USA und Großbritannien.
Und Sie haben den Körperschaftsteuersatz von 12,5 Prozent. Wir haben eine unternehmerfreundliche Wirtschafts- und Steuerpolitik, die von allen großen Parteien getragen wird. In anderen Ländern können Sie nach einem Regierungswechsel große Kursänderungen in der Wirtschaftspolitik erleben. In Irland ist das unwahrscheinlich.
Großbritannien hat gerade angekündigt, den Körperschaftsteuersatz im Jahr 2023 von 19 auf 25 Prozent zu erhöhen, um für das Corona-Defizit zu bezahlen. Ist es vorstellbar, dass Irland dem Beispiel folgt? Nein. Das Attraktive an unserem Steuersatz ist, dass er niedrig und simpel ist – und dass er sich nie ändert. Regierungen wechseln, die Wirtschaft durchläuft Boom und Rezession, und wir bieten die Sicherheit, dass wir eine niedrige, einfache Unternehmensteuer haben.
Der Brexit und die wirtschaftliche Spaltung des Landes
Wäre die Coronakrise nicht die beste Gelegenheit, den Kritikern in der EU entgegenzukommen? Wir unterstützen vollkommen den Ansatz der OECD. Wir sind der Ansicht, dass große Firmen mit hohen Gewinnen ihren fairen Steueranteil zahlen sollen. Er sollte irgendwo gezahlt werden, nicht nirgendwo. Und Irland will Teil dieser Lösung sein. Wir haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass wir bereit zu Änderungen sind, aber der Steuersatz wird sich nicht ändern. Wir denken, es sollte eine OECD-weite Lösung geben, weil dann auch die USA und Großbritannien dabei sind. Eine rein europäische Lösung würde niemandem helfen.
Zurück zum Brexit: Würden Sie sagen, dass Irland unter dem Strich davon profitiert? Nein, und zwar aus zwei Gründen: Erstens sind die Exportsektoren, die vom Brexit profitieren, wie Finanzen, Pharma und Tech, ohnehin stark, und sie sind in den Städten konzentriert. Die Branchen, die wahrscheinlich getroffen werden, wie Fischerei, Landwirtschaft, kleine Firmen, Tourismus, sind hingegen sehr wichtig für Arbeitsplätze außerhalb der Städte.
Der Brexit verstärkt also die wirtschaftliche Spaltung des Landes. Das ist zumindest die Gefahr. Die Regierung wird daher den betroffenen Sektoren helfen müssen. Zweitens geht es nicht nur um die Wirtschaft, sondern auch um die politische Realität. Der Brexit verändert unsere Beziehung zu Großbritannien und wird immer wieder zu Schwierigkeiten führen. Das haben wir im Streit um die Impfstoffe bereits gesehen. Dieser Wettbewerb zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich wird von nun an zur Regel, nehme ich an. Und Irland sitzt leider in der Mitte. Wir wissen natürlich, wo wir stehen. Wir sind Teil der EU, Teil von Team27.
Aktuell verklagt die EU Großbritannien wegen der Zollgrenze in der Irischen See. Die hatten Sie persönlich mit Boris Johnson vereinbart, und nun ändert er eigenmächtig die Konditionen. Ist das akzeptabel? Es ist nie akzeptabel, wenn ein Land gegen internationale Abmachungen verstößt. Ich denke, am Ende wird Großbritannien seine Zusagen im Ausstiegsvertrag und im Freihandelsabkommen einhalten. Denn sie haben den Ehrgeiz, Handelsabkommen in anderen Teilen der Welt abzuschließen, und es wird ihre Glaubwürdigkeit beschädigen, wenn sie ihre ersten Verträge brechen.
Londons Argument, dass viele der neuen EU-Kontrollen unnötig sind, wird von irischen Unternehmen geteilt. Von Ihnen auch? Es ist absolut in unserem Interesse, so wenig Reibung wie möglich zwischen Großbritannien und Irland zu haben.
Ist die EU in der Frage zu unflexibel? Nein, wir haben gemeinsame Arbeitsgruppen, um diese technischen Fragen zu regeln. Das geht nicht durch einseitige Aktionen oder durch die Politisierung und Dramatisierung dieser Fragen. Dann kommen wir in Schwierigkeiten. Wir waren gegen den Brexit. Leider ist dieses Projekt bei uns gelandet, und jetzt müssen wir funktionierende Lösungen finden. Wir kennen unsere Verpflichtung, den Binnenmarkt zu schützen. Wir sind Gründungsmitglieder des Binnenmarkts und der Euro-Zone. Es ist unser gemeinsames europäisches Haus, und wir sind sehr misstrauisch gegen jeden, der unseren Platz darin zu untergraben versucht. Wenn es Konflikte gibt, werden wir auf Europas Seite stehen.
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