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Interview mit Hans Kluge WHO-Europachef warnt vor Delta-Welle – und schließt Empfehlung für Impfpflicht nicht aus

Der Regionaldirektor der Weltgesundheitsorganisation ist wegen des sinkenden Impftempos beim Kampf gegen Corona besorgt. So werde das Entstehen neuer Varianten begünstigt.
22.07.2021 - 14:02 Uhr Kommentieren
„Je langsamer wir impfen, umso mehr Varianten werden entstehen.“ Quelle: imago images/ITAR-TASS
WHO-Europachef Hans Kluge

„Je langsamer wir impfen, umso mehr Varianten werden entstehen.“

(Foto: imago images/ITAR-TASS)

Düsseldorf, Genf Der Europachef der Weltgesundheitsorganisation kritisiert angesichts der steigenden Infektionsraten die Lockerungsschritte in Großbritannien und warnt vor einer starken Covid-Welle, die die Krankenhäuser in einigen Ländern wieder überfordern könnte.

Angesichts des noch nicht ausreichenden Impffortschritts lege die Delta-Variante die Achillesferse Europas frei, sagte Hans Kluge dem Handelsblatt. „Je langsamer wir impfen, umso mehr Varianten werden entstehen.“ Die Maskenpflicht müsse beibehalten werden. Zudem sollte der Zutritt für Restaurants oder Museen breitflächiger nur für Geimpfte, Genesene oder negativ Getestete möglich sein.

Das Impftempo nehme in vielen Ländern ab einer Impfquote von 40 bis 50 Prozent deutlich ab, sagte der Regionaldirektor. Das reiche aber nicht annähernd aus. Deshalb müssten alle Länder versuchen, Impfzweifler zu überzeugen. „Verzögerungen bei den Impfungen kosten Menschenleben, und sie schaden der Wirtschaft.“

Skeptisch sieht Kluge eine Impfpflicht auch für einzelne Berufsgruppen zum jetzigen Zeitpunkt. „Die Impfpflicht ist für mich ein Mittel der letzten Wahl.“ Er sei aber nicht davon überzeugt, dass bislang alle anderen Möglichkeiten, die Impfungen zu steigern, ausgeschöpft seien. „Wir können aber an einen Punkt gelangen, an dem die WHO eine Impfpflicht empfehlen wird.“ Die Gefahr bestehe jedoch, dass mit einem solchen Schritt die Anti-Impf-Bewegung gestärkt werde.

Um die Impfquote zu steigern, müssten Impfungen leichter zugänglich gemacht werden. Influencer könnten Zweifler überzeugen. Zudem sollten Länder sich bilateral und über die Covax-Initiative stärker mit Impfstoffen gegenseitig aushelfen.

Kritisch sieht Kluge das Beispiel Großbritannien, wo die Regierung die Schutzvorschriften gegen Corona fallen gelassen hat. „Es ist nicht die Zeit, total zu öffnen“, sagte er. Wenn Restriktionen aufgehoben werden, muss an anderer Stelle kompensiert werden.

So müssen beispielsweise lokale Lockdowns möglich sein, um Infektionsherde im Keim zu ersticken. Eine Impfquote von 54 Prozent vollständig Geimpfter reiche nicht aus. Eine Herdenimmunität sei erst mit 80 Prozent erreicht. Dafür müssten auch die Kinder geimpft werden.

Lesen Sie hier das gesamte Interview:

Herr Kluge, vor drei Wochen haben Sie vor einer neuen heftigen Corona-Welle in Europa gewarnt mit steigenden Krankenhauseinweisungen. Können wir diese noch vermeiden?
Wir sehen für die paneuropäische Region, zu der wir 53 Länder inklusive Russland und Israel zählen, in der vierten Woche in Folge ein Wachstum an Neuinfektionen. Die Todeszahlen steigen zum Glück noch nicht. Die sehr schnelle Verbreitung der Delta-Variante trifft uns hart. Die Krankenhäuser einiger Länder könnten am Ende wieder überfordert sein. Die Delta-Variante legt die Achillesferse der paneuropäischen Region frei.

Inwiefern?
Der Impffortschritt reicht noch nicht. In Paneuropa sind nur 26 Prozent voll geimpft. Schlimmer noch: Die Hälfte unserer älteren Bevölkerung und 40 Prozent unseres Gesundheitspersonals sind noch immer ungeschützt. Das ist inakzeptabel. Niemand ist sicher, bis nicht alle sicher sind. Und nun sehen wir, dass eine Reihe von Ländern trotz steigender Infektionen die Vorsichtsmaßnahmen aufhebt. Und wir werden im Herbst und Winter wieder den saisonbedingten Anstieg der Infektionen sehen.

Was machen wir also?
Wir sind in einer besseren Situation als im letzten Jahr, weil wir ein mächtiges Instrument haben: die Impfungen. Wir haben bei der Delta-Variante Ansteckungen trotz Impfung, ja. Der Schutz ist nicht 100-prozentig, aber Impfungen sind trotzdem das beste Mittel. Wir müssen impfen, impfen, impfen. Wir sind noch sehr weit entfernt von der empfohlenen Impfquote von 80 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Verzögerungen kosten Menschenleben und schaden der Wirtschaft. Je langsamer wir impfen, umso mehr Varianten werden entstehen. Zudem müssen wir die Maskenpflicht beibehalten. Und die Länder können den Covid-Pass stärker einsetzen.

Was heißt das konkret?
In Dänemark, in dessen Hauptstadt Kopenhagen das WHO-Regionalbüro sitzt, darf niemand bestimmte Räume wie Restaurants oder Museen ohne einen Covid-Pass betreten – muss also geimpft, genesen oder negativ getestet sein.

Frankreich wird Tests im Herbst kostenpflichtig machen, in Deutschland werden diese Schritte auch diskutiert, um zum Impfen zu motivieren. Was halten Sie davon?
Das hat in einigen Ländern einen Schub gegeben. Aber ich bin immer ein wenig vorsichtig, wenn wir nicht wissen, was am Ende die Folgen für die verletzlichsten Menschen sind. Wir müssen den Leuten klarmachen, dass wir es noch nicht geschafft haben, und gleichzeitig Hoffnung aussenden. Wir brauchen jetzt ziviles Verantwortungsbewusstsein und politische Entschlossenheit, die auf wissenschaftlichen Daten basiert ist. Das sehen wir leider nicht überall.

Das Impftempo in Europa nimmt derzeit ab …
Wir sehen ein Verharren, wenn die Länder 40 bis 50 Prozent Impfquote erreicht haben. Zu viele Menschen hoffen dann, dass sich noch andere impfen lassen und sie zu den 20 Prozent gehören können, die sich nicht impfen lassen – und es dennoch eine Herdenimmunität gibt. Das müssen wir überwinden. Die harten Impfgegner sind nur eine ganz kleine Gruppe. Wir sollten uns nicht an diesen Leuten abarbeiten und unsere Energien verschwenden. Alle, die von Zweifeln geplagt werden, aber offen für Diskussionen sind, müssen wir erreichen. Deutschland macht das gut.

Inwiefern?
Kanzlerin Merkel etwa sucht den Dialog. Sie gibt keine Impfpflicht vor, sondern bezieht die Menschen ein. Wir müssen Influencer mit einspannen. Ich denke da auch an die Kirchen. In bestimmten osteuropäischen Ländern spielt die orthodoxe Christenheit eine starke gesellschaftliche Rolle und kann helfen. Und wir müssen Impfungen leichter zugänglich machen.

Das heißt, Sie sind gegen eine Impfpflicht, auch für bestimmte Gruppen wie Pflegekräfte oder Lehrer?
Ich unterstütze jede Maßnahme, die legal und sozial akzeptabel ist, um die Impfquote zu steigern. Wir müssen vorsichtig sein, dass wir nicht die Anti-Impf-Bewegung stärken. Die Impfpflicht ist für mich ein Mittel der letzten Wahl. Ich bin aber nicht davon überzeugt, dass wir bislang die anderen Möglichkeiten, die Impfungen zu steigern, ausgeschöpft haben. Wir können aber an einen Punkt gelangen, an dem die WHO eine Impfpflicht empfehlen wird.

Wenn große Teile der Bevölkerung sich nicht impfen lassen wollen oder nur langsam Zugang zu Vakzinierung erhalten, ist dann nicht eine sogenannte Herdenimmunität ein illusorisches Ziel?
Die Herdenimmunität ist und bleibt ein absolut realistisches Ziel, das wir anstreben müssen. Auch die Kinder müssen geimpft werden, sonst werden wir die Schulen nicht offenhalten können.

In London hat die Regierung die meisten Corona-Restriktionen für England beendet wegen einer Impfquote von 54 Prozent. Ist das Timing richtig gewählt?
Absolut nicht. Es ist nicht die Zeit, total zu öffnen. Wenn Restriktionen aufgehoben werden, muss an anderer Stelle kompensiert werden. So müssen beispielsweise lokale Lockdowns möglich sein, um Infektionsherde im Keim zu ersticken. Wichtig ist auch, dass jeder Verantwortliche sich auf seine Funktion konzentriert. Politiker sollen nicht Wissenschaftler spielen. Und Wissenschaftler sollen nicht Politiker spielen. Das ist jedoch in vielen Ländern vorgekommen.

Die Länder, die früh mit der ersten Impfung begonnen haben, denken über eine dritte Impfung nach. Empfehlen Sie das?
Wir haben dafür im Moment noch nicht genügend wissenschaftliche Daten. Wir schauen uns das sehr genau an. Wir müssen die Impfungen erst einmal auf einer paneuropäischen Ebene allen älteren Menschen, allen Beschäftigten im Gesundheitsbereich und allen Menschen mit einem schwächeren Immunsystem zugänglich machen.

Großbritannien hat fast alle Corona-Vorkehrungen aufgehoben. WHO-Europachef Kluge hält das für gefährlich. Quelle: dpa
Klub in London

Großbritannien hat fast alle Corona-Vorkehrungen aufgehoben. WHO-Europachef Kluge hält das für gefährlich.

(Foto: dpa)

Die insgesamt niedrige Impfquote in der WHO-Region Europa lässt sich auch mit dem Impfnationalismus erklären. Reiche Länder kaufen und horten die Impfdosen, ärmere Länder, zum Beispiel einige der früheren Sowjetrepubliken, sind lange leer ausgegangen.
Ja, das stimmt leider. Dieser Impfnationalismus wird von politischer Ideologie befeuert. Nationale Alleingänge führen in die Irre. Deutschland hat das erkannt und ist der stärkste Befürworter multilateraler Lösungen. Die gemeinsame Beschaffung von Impfdosen in der EU über die Kommission ist lebensrettend für viele kleinere Länder. Und wir sehen auch, dass sich innerhalb Europas die Länder gegenseitig zunehmend bilateral aushelfen mit Impfstoff. Das muss jetzt international zunehmen.

Etliche Länder, angeführt von Indien und Südafrika, fordern ein Aussetzen des internationalen Patentschutzes auf Impfstoffe, Heilmittel, Diagnostika und medizinische Ausrüstung im Kampf gegen Covid-19. Sie argumentieren, eine Patentaussetzung führe zu einer Produktionssteigerung bei den dringend benötigten Impfstoffen. Wie beurteilen Sie diese Forderung?
Die vorübergehende Außerkraftsetzung der Patentrechte ist sicher ein Werkzeug im Kampf gegen die Pandemie. Aber haben wir die anderen Möglichkeiten wie Exportkontrollen und Technologietransfer schon genügend genutzt? Die grenzüberschreitende Lieferung von wichtigen Gütern gegen Covid-19 darf nicht behindert oder unmöglich gemacht werden. Es gibt jedoch Länder, die sich für eine Aussetzung des Patentschutzes stark machen, gleichzeitig aber Ausfuhrrestriktionen für Rohmaterialen zur Herstellung von Impfdosen eingeführt haben. Das passt nicht zusammen.

Mehr: Der britische Premier gefährdet die Gesundheit aller Europäer

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