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Interview Österreichs Kanzler Schallenberg kritisiert Kurz' Chats: „Das Sittenbild ist unschön und ungut“

Die Nachrichten des Ex-Kanzlers missfallen dem neuen Regierungschef. Im Interview betont er dennoch die Nähe zu seinem Vorgänger und spricht über seine politischen Pläne.
29.10.2021 - 13:20 Uhr Kommentieren
„Es ist meine Aufgabe, das Vertrauen zueinander wiederherzustellen.“ Quelle: dpa
Österreichs Bundeskanzler Alexander Schallenberg

„Es ist meine Aufgabe, das Vertrauen zueinander wiederherzustellen.“

(Foto: dpa)

Wien Alexander Schallenberg steht unerwartet an der Spitze von Österreichs Regierung. Im Interview betont der ehemalige Außenminister die Nähe zu seinem Vorgänger: „Sebastian Kurz und ich haben sehr eng zusammengearbeitet, und wir sind uns sehr ähnlich.“

Dennoch erkennt Schallenberg Missstände: „Das Sittenbild, das sich in den Chats zeigt, ist unschön und ungut: die Tonalität, die Art, wie geurteilt wird.“ Man müsse jedoch berücksichtigen, dass es sich bei den Chats um private Nachrichten gehandelt habe – und diese anders formuliert worden wären, wäre klar gewesen, dass sie an die Öffentlichkeit gelangen. „Deshalb habe ich meine Meinung geäußert, dass ich von einer Einstellung des Verfahrens ausgehe“, sagt der neue Kanzler.

In der Coronakrise sieht Schallenberg sein Land noch nicht „über den Berg“, die Impfquote sei zu gering. „Wenn wir nicht besser werden, kann der Winter ungemütlich werden für die Ungeschützten“, mahnt Schallenberg. Eine Impfpflicht schließt er aus.

Lesen Sie hier das ganze Interview:

Herr Bundeskanzler Schallenberg, nach dem Rückzug von Sebastian Kurz Anfang des Monats sind Sie als Außenminister an die Regierungsspitze katapultiert worden. Weil Sie Diplomat sind?
Sagen wir es so: Meine 20-jährige Berufserfahrung kommt mir sicher zugute. Diplomatisches Geschick ist gefragt.

Was mussten Sie am schnellsten lernen?
Wie ich Ruhe in diese Gemengelage hineinbringe. Wir müssen wegkommen von der innenpolitischen Schnappatmung. Es wurde Vertrauen in der Regierungskoalition zerstört, das muss gekittet werden.

Sie haben das jetzt sehr diplomatisch formuliert. Sebastian Kurz bezeichnete bei seinem Rücktritt die Grünen als Gegner – es war viel Verbitterung über den Entzug der Unterstützung spürbar. Wie regiert man so miteinander?
Die Volkspartei (ÖVP) und die Grünen sind sehr unterschiedlich, aber beide wollen weiter kooperieren. Man muss miteinander reden, weshalb ich auch ein baldiges Get-together fernab von der Öffentlichkeit vorgeschlagen habe. Es ist meine Aufgabe, das Vertrauen zueinander nun Schritt für Schritt wiederherzustellen.

Trotz dieser Unsicherheiten wollen Sie bis zum Ende der Legislatur 2024 im Amt bleiben. Wovon hängt das ab?
Die Kernfrage ist, ob die beiden Partner willens sind, die Koalition fortzuführen. In der Fußballsprache gesprochen, haben wir den Top-Spieler vom Feld genommen, und jetzt muss ein neues Team genügend Pässe spielen, damit Tore fallen. Eine Regierung ist nicht anders. Ich werde alles tun, damit es nicht zu vorgezogenen Neuwahlen kommt. Das wäre in der jetzigen Situation verantwortungslos.

Wie unterscheiden Sie sich denn von Ihrem Vorgänger?
Sebastian Kurz und ich haben sehr eng zusammengearbeitet, und wir sind uns sehr ähnlich. Aber ich bin ein anderer Mensch, das beginnt schon damit, dass ich fast 20 Jahre älter bin (lacht). Ich habe eine andere Art zu kommunizieren. Mir ist es wichtig, die Kontinuität zu betonen: Wir haben eine Regierung, ein Programm, eine Mehrheit im Parlament. Ich rede mit allen Kräften im Land, den Sozialpartnern, der Opposition, den Religionsgemeinschaften. Ich versuche, überall die Hand auszustrecken.

Kurz gilt als „Schattenkanzler“, auch Sie betonen die enge Abstimmung fast gebetsmühlenartig. Wie muss man sich das konkret vorstellen?
So aufregend ist das nicht. Es ist nicht nur normal, sondern auch geboten, dass ich mit dem Vorsitzenden und Fraktionschef meiner eigenen Regierungspartei eng zusammenarbeite. Zweimal in der Woche gibt es größere Runden mit der Fraktion und den Teilorganisationen der ÖVP, in denen wir uns abstimmen. Ich war ja mehr als zwei Jahre lang Minister, ich kenne die Regierungslinie.

Der frühere Außenminister gilt als enger Vertrauter des Ex-Kanzlers. Quelle: dpa
Sebastian Kurz und Alexander Schallenberg

Der frühere Außenminister gilt als enger Vertrauter des Ex-Kanzlers.

(Foto: dpa)

Sie sind aber erst seit einem Jahr Parteimitglied und haben keine Hausmacht. Ist das eine Hypothek?
Nein. In vielen Staaten ist es gang und gäbe, dass jemand, der in der Regierung sitzt, keine Parteifunktionen hat. Es gab auch in Österreich Phasen, in denen der Bundeskanzler nicht Parteichef war.

Sie haben nach Ihrer Amtsübernahme gesagt, dass Sie die Vorwürfe gegen Kurz für falsch halten. Die rechtlichen Aspekte werden Gerichte prüfen. Aber können Sie Missstände erkennen?
Das Sittenbild, das sich in den Chats zeigt, ist unschön und ungut: die Tonalität, die Art, wie geurteilt wird. Das haben die Betroffenen auch eingestanden. Es sind jedoch private Nachrichten, die sie anders formuliert hätten, hätten sie gewusst, dass diese öffentlich würden. Das ändert an der Sache zwar nichts. Aber das muss man vom strafrechtlich Relevanten trennen. Deshalb habe ich meine Meinung geäußert, dass ich von einer Einstellung des Verfahrens ausgehe.

Sehen Sie politischen Handlungsbedarf? Die ans Licht gekommenen Tauschgeschäfte von Inseraten gegen positive Berichterstattung wirken ja reichlich dubios.
Bevor wir vorschnell in eine Richtung galoppieren, muss sich der Staub erst einmal legen. Dann können wir überlegen, was wir ändern müssen.

Aber der disproportionale Einfluss von Regierungsstellen über Inserate auf Medien ist nicht erst seit drei Wochen bekannt. Sollten diese Ausgaben reduziert werden?
Das Thema gibt es seit Jahrzehnten, die Beziehung zwischen der öffentlichen Hand und der Presse ist hochkomplex. Politik ist in einer Demokratie begründungspflichtig und damit kommunikationsbedürftig, und das geschieht nun einmal über die Medien. Man sollte die Kirche im Dorf lassen: Nicht jedes Inserat ist ein Verbrechen. Der Regierung wurde in der Pandemie sogar vorgeworfen, nicht genug zu kampagnisieren. Da herrscht eine kognitive Dissonanz. Aber ich bin einer Diskussion gegenüber offen.

Stoff dafür gibt es sicher genug in der Koalition. Was verbindet Ihre beiden Parteien denn in Zukunft? Mit der Steuerreform haben Sie das Prestigeprojekt bereits unter Dach und Fach.
Wir haben ein substanzielles Regierungsprogramm. Bereits in den ersten Wochen meiner Kanzlerschaft haben wir in einem intensiven Rhythmus Resultate geliefert, mit dem Budget, der ökosozialen Steuerreform, dem neuen Gesetz zum Umgang mit Krisen, der Regelung des assistierten Suizids, einem Urteil des Verfassungsgerichtshofs entsprechend, und weiteren Corona-Maßnahmen.

Die Pandemiebekämpfung verbindet?
Ja. Wir haben 18 Monate Krise hinter uns, und Neuwahlen sind kein guter Mechanismus zu deren Bewältigung. Leider sind wir noch nicht über den Berg, die Impfquote ist mit 63 Prozent Vollimmunisierter zu tief. Wir stolpern in eine Pandemie der Zauderer und Zögerer.

Die Zahl der Spitaleinweisungen steigt stark an. Sie kündigten für den Fall der Überschreitung eines Grenzwerts auf den Intensivstationen einen Lockdown für Ungeimpfte an. Wirkt das auf diese Gruppe nicht kontraproduktiv?
Gewisse Menschen werden wir nicht erreichen. Aber es gibt eine vermutlich genauso große Gruppe, die ich überzeugen will, sich impfen zu lassen. Gleichzeitig haben wir eine Drohkulisse aufgebaut – mit der Erwartung, dass sie nie eintritt. Wenn wir nicht besser werden, kann der Winter ungemütlich werden für die Ungeschützten. Eine Impfpflicht wird es aber nie geben in diesem Land.

Als Außenminister haben Sie sich stärker mit Europa befasst als mit der Innenpolitik. Ihr Amtsantritt als Kanzler fällt auch da mit Turbulenzen zusammen: Der Konflikt mit Polen um die Justizreformen erreicht mit der Verhängung einer täglichen Buße von einer Million Euro durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) eine neue Eskalationsstufe. Warschau spricht von Erpressung. Zu Recht?
Es ist richtig, dass ein Rechtskonstrukt wie die Europäische Union mit Rechtsmitteln agiert. Aber neben Verfahren vor dem EuGH braucht es Respekt und Dialog. Gerade in einer immer engeren Union muss das Recht auf Anhörung für alle gelten.

Das jüngste Urteil des polnischen Verfassungsgerichts macht dies nicht einfacher: Es richtet sich gegen diejenigen Artikel der Verträge, die das Ziel einer immer engeren Union festhalten und die Funktionsweise des EuGH regeln.
Polen stellt den Vorrang der Verträge infrage, das ist eine neue Qualität. Die Diskussion darüber, wie weit die Kompetenzen des EuGH gegenüber nationalen Verfassungsgerichten reichen, ist hingegen eine legitime, mit der sich auch andere Staaten lange schwertaten. Aber Polens Regierung baut ein System auf, das nicht vereinbar ist mit der Unabhängigkeit der Justiz. Grundwerte wie die Gewaltentrennung und die Rechtsstaatlichkeit sind nicht verhandelbar. Dazu haben sich die Staaten bei ihrem EU-Beitritt bekannt.

Wird Warschau einlenken?
Polen hat erklärt, dass es den Forderungen, die Disziplinarkammer abzuschaffen, nachkommen werde. Ich glaube und hoffe, dass sie diesen Weg konstruktiv weitergehen werden. Aber es ist eine Grundsatzdiskussion. Uns Vorwürfe gegenseitig per Megafon zuzurufen hilft nicht.

Die vielen Konflikte in Europa erwecken zuweilen den Eindruck, der Kontinent drifte auseinander. Teilen Sie diese Sorge?
Das europäische Einigungsprojekt ist das Großartigste, was uns in den letzten 150 Jahren eingefallen ist. Ja, es gibt Schwierigkeiten, die gab es in der Vergangenheit aber auch. Probleme einzukreisen und zu lösen, manchmal auch zu umgehen war immer die Stärke der EU. Die gefährlichste Zentrifugalkraft ist das Gefühl jener Staaten, die seit 2004 beigetreten sind, es gebe Mitgliedschaften erster und zweiter Klasse. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich das verfestigt. Und die EU muss aufpassen, nicht nur eine Politik für arrivierte Industriestaaten zu machen, sondern auch die Transformationsschmerzen der ehemaligen Ostblockstaaten in Rechnung zu stellen.

Welche Rolle kann Österreich in diesen Diskussionen spielen? Es ist ein Kleinstaat mit beschränktem realpolitischem Gewicht.
Unsere Stimme ist im europäischen Konzert gar nicht so unbedeutend. Wir haben acht Nachbarstaaten, von der Schweiz bis zur Slowakei, und pflegen zu allen sehr gute Gesprächskanäle. Wir Österreicher können Verständnis für die Voraussetzungen und die Gefühlslagen im Westen und Osten des Kontinents aufbringen. Wir liegen genau in der Mitte. Unser strategisches Interesse besteht darin, dass Europa zusammenwächst. Österreich hat jahrzehntelang unter seiner Randlage gelitten und ist der größte Profiteur der Erweiterungen.

Mehr: Kommentar: Kurz ist gescheitert – auch sein Vermächtnis ist enttäuschend.

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