Italien Der glaubwürdige Reformer: Wie Draghi versucht, ein neues Italien zu schaffen

Der Job als Premier macht ihm zunehmend sichtlich Spaß.
Rom „Presidente, Presidente!“, rufen die Fotografen hinter der Absperrung. Mario Draghi hört nicht hin, als er aus dem Auto steigt, begrüßt seinen Gesundheitsminister, geht zum Eingang des Impfzentrums. Kurz vor der Tür dreht sich der Premier zu den Kameras, winkt eine Sekunde – und verschwindet ohne ein Wort in der weißen Zeltstadt vor den Toren Roms.
Der Besuch Mitte März ist Draghis erster offizieller Außentermin. Einen Monat ist er damals im Amt – und gibt sich von Anfang an unaufgeregt, unprätentiös, aber auch medienscheu. Für Italiens sonst eher testosterongesteuerte Politik stellt diese Art des Regierens schon einmal eine kleine Revolution dar.
Während Draghis Vorgänger Giuseppe Conte tagtäglich seine Follower beglückte, hat der 73-Jährige nicht mal einen Social-Media-Account. Während Conte von einer Zeitung zur nächsten TV-Sendung tingelte, hat Draghi bis heute kein einziges Interview gegeben. Die italienischen Medien verzweifeln, es gibt keine Durchstechereien mehr, keine exklusiven Regierungs-News. Erst machen, dann reden – das ist Draghis Stil. Kein Wunder, ist seine Kommunikationsberaterin doch eine alte Begleiterin aus der Banca d’Italia.
Ein halbes Jahr führt Draghi nun vom Palazzo Chigi die Regierungsgeschäfte. Es war eine kurze, aber intensive Zeit, in der Draghi für Italien erstaunlich viele Akzente gesetzt hat. Zuallererst hat er der Politik eine Ernsthaftigkeit und Kontinuität gebracht, die das Land mit den unzähligen Regierungswechseln seit Ende des Zweiten Weltkriegs so dringend braucht.
Draghi besitzt Autorität – und zwar über Parteigrenzen hinweg. Das haben bislang die wenigsten Premiers geschafft, selbst der Technokrat Giuseppe Conte nicht, der in Italien als der „Professor“ verspottet wurde. Das zweite große Verdienst Draghis: Er hat das Land zu einem verlässlichen Partner in Europa und darüber hinaus gemacht. „Es zählt die Qualität der Entscheidungen, der Mut der Visionen, es zählen nicht die Tage“, sagte der ehemalige EZB-Chef in seiner Antrittsrede. Draghi hat geliefert – bislang.
Draghis Prioritäten: Impfen und der Wiederaufbauplan
Anfangs setzte Draghi zwei Prioritäten: die Impfkampagne beschleunigen und den Plan für Europas Wiederaufbauprogramm umschreiben. Beides gelang. Nachdem die Impfungen schleppend anliefen, berief er einen Armeegeneral zum neuen Logistikchef. Heute zählt Italien bei der Durchimpfung zu den Top-Ten-Ländern auf der Welt, mehr als 56 Prozent der Bevölkerung haben die zweite Impfung erhalten.
Der Wiederaufbaufonds, aus dem Italien mit mehr als 220 Milliarden Euro so viel erhält wie kein anderes Land, war die weitaus größere Herausforderung. Am Streit über die Details war die Conte-Regierung im Dezember vergangenen Jahres zerbrochen. Draghi setzte neue Schwerpunkte, gab dem grünen Wandel und der Entwicklung des strukturschwachen Südens mehr Gewicht. Und er hielt sich an die Deadline: Pünktlich kam der neue Plan bei der EU-Kommission an. Ein Signal: Liebes Europa, ihr könnt uns wieder vertrauen!
Vertrauen ist ohnehin ein Attribut, das viele mit Draghi verbinden. Ob man mit Unternehmern oder Managern spricht, mit Ministern oder Diplomaten: Draghi hat Italien seine Glaubwürdigkeit zurückgegeben, auf das Land kann man wieder zählen. „Durch Draghi hat die italienische Politik an Verbindlichkeit gewonnen“, sagt ein Berliner Kabinettsmitglied.
Draghi kann mit Kanzlerin Angela Merkel genauso gut wie mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Aus dem deutsch-französischen Duo, das Europa gemeinsam antreibt, ist ein Trio geworden. In Roms politischen Kreisen sieht man Draghi schon jetzt als Merkels legitimen Nachfolger. Was natürlich übertrieben erscheint.
Vor allem, weil Italien ökonomisch betrachtet immer noch ein Krisenland ist. Hoffnungslos überschuldet – mit knapp 160 Prozent in Relation zur Wirtschaftsleistung steht die drittgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone für ein Viertel ihrer Gesamtverschuldung. Immer noch wachstumsschwach – auch wenn das Land eine unerwartet rasante Erholung hinlegt. Und zu guter Letzt mit einem verkrusteten Arbeitsmarkt, der bestehende Jobs zwar schützt, aber selbst gut ausgebildete jüngere Menschen ausschließt.
„Merkels Lücke kann er nicht ausfüllen, die Italiener neigen gern zur Übertreibung“, sagt denn auch etwas süffisant ein deutscher Diplomat. Die Voraussetzungen, das Land endlich zu reformieren, erfüllt Draghi. Er hat ein starkes Mandat: Die Mehrheit der Italiener steht hinter ihm.
Dabei setzte er oftmals unbequeme Entscheidungen durch, gerade im Kampf gegen die Pandemie. Im April verkündete Draghi eine Impfpflicht fürs Personal im Gesundheitswesen – wer sich weigert, bleibt unbezahlt zu Hause. Ab September sind Lehrer und Dozenten verpflichtet, einen Nachweis über Impfung, Test oder Genesung vorzuweisen, sonst können auch sie ohne Lohn vom Dienst suspendiert werden.
Matteo Salvini macht Draghi das Regieren schwer
Immer wieder rumorte es in seiner Koalition der „nationalen Einheit“, die von den Sozialdemokraten über die linke Bewegung Fünf Sterne bis hin zur rechten Lega reicht und im Parlament auf fast 90 Prozent der Sitze kommt. Besonders Lega-Chef Matteo Salvini, selbst ohne Ministeramt, versuchte, Draghi das Regieren schwerzumachen.

Schon als EZB-Chef war Draghi auf Augenhöhe mit den Staats- und Regierungschefs.
Sein bislang größter Erfolg: Nach jahrelangen Diskussionen brachte Draghi eine Justizreform durchs Parlament, die Prozesse vereinfachen und verkürzen soll. Zu oft verjähren Strafverfahren, indem Anwälte sie durch die Instanzen jagen. „Kein Prozess soll mehr in Rauch aufgehen“, betonte Draghis Justizministerin Marta Cartabia, eine von acht Technokraten im Kabinett.
Auch ein Gesetz zur Vereinfachung vieler Behördengänge brachte Draghi auf den Weg. Als Nächstes will er das viel zu komplexe Steuersystem reformieren, die sozialen Sicherungsnetze, danach kommt die Rente dran.
Selbst die ökonomischen Daten belegen Italiens Wiederaufstieg: Nachdem das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2020 um knapp neun Prozentpunkte einbrach, wird die Wirtschaft nun um mehr als fünf Prozent wachsen. Anfang des Jahres waren Ökonomen noch verhaltener, mittlerweile haben alle ihre Prognosen nach oben korrigiert.
Die Arbeitslosenquote ist unter zehn Prozent gesunken, Konsum- und Geschäftsklima sind auf Vor-Corona-Niveau, im zweiten Halbjahr sollen sich die ersten Milliardentranchen aus Brüssel im Wachstum niederschlagen.
Premier oder Präsident: Regiert Draghi über 2022 hinaus?
Giulia Branz, Analystin der Ratingagentur Scope, sieht Italien an einem „politischen Wendepunkt“. In der bisher kurzen Amtszeit habe Draghi „einige Hauptziele“ schon erreicht. „Die Strukturreform der großen und diversifizierten italienischen Wirtschaft bleibt dennoch von größter Bedeutung.“ Die Frage ist, wie viel Zeit Draghi dafür bleibt? Ist er nur ein kurzer Übergangspremier – oder macht er weiter bis zur nächsten regulären Wahl im Jahr 2023?
Klar ist: Sechs Monate regiert er mindestens noch. Weil im Januar der Präsident neu gewählt wird, der ähnlich repräsentative Aufgaben hat wie der deutsche Bundespräsident, darf das Parlament nun nicht mehr aufgelöst werden. „Semestre bianco“ heißt diese Besonderheit der italienischen Politik, das „weiße Semester“. Amtsinhaber Sergio Mattarella will nicht erneut antreten. Draghi galt immer als perfekter Kandidat für seine Nachfolge. Ein überparteiliches Amt, das besser zu ihm zu passen schien. Doch dann stürzte die Regierung – und Draghi war plötzlich Premier.
Ende Mai, Draghi sitzt bei einer seiner seltenen Pressekonferenzen. Eigentlich will er über die Milliardenhilfen für die Wirtschaft sprechen, die sein Kabinett gerade verabschiedet hat. Doch dann fragt ein Journalist, was er zu den Spekulationen von Lega-Chef Salvini zu sagen habe, der ihn immer wieder als neuen Präsidenten ins Spiel bringt.
Zunächst ein etwas schiefes Lächeln. „Um es höflich auszudrücken“, sagt er und seufzt kurz. „Ich finde es äußerst unangemessen, über die Nachfolge des Staatsoberhaupts zu sprechen, solange es im Amt ist.“ Der Einzige, der dazu berichtigt sei, ist „das Staatsoberhaupt selbst“.
Auch aus Draghis Umfeld heißt es, dass er sich keine Gedanken über das Präsidentenamt mache. Es gebe genügend Dinge, die er noch anstoßen will. Tritt Mattarella am Ende doch wieder an, um Draghi sicher im Amt zu lassen? Und um zu verhindern, dass bei vorgezogenen Neuwahlen eine rechte Mehrheit das Land regieren könnte? „Das politische Risiko ist historisch gesehen so niedrig wie nie“, meint der italienische Ökonom Lorenzo Codogno. „Aber der Druck, nach dem Sommer Reformen zu liefern, könnte Überraschungen bringen.“
Mit der Zeit löste sich Draghi von seinen Redetexten
Draghi macht der Job mittlerweile sichtlich Spaß. Gab er sich anfangs bei Auftritten noch reserviert und las viel ab, löste er sich mit der Zeit von seinen Redetexten. Ein verschmitztes Lächeln hier, ein kleiner Scherz am Rande. Nach dem Triumph bei der Fußball-EM und dem Olympia-Gold im Tennis lud er sich die Athleten in den mit Italien-Flaggen geschmückten Innenhof seines Regierungspalasts – und lobte unter Applaus die Paraden von Nationaltorhüter Gianluigi Donnarumma.
Auch Anfang August tritt ein lockerer, ein stolzer Draghi vor die Journalisten. Er will sich in die zweiwöchige Sommerpause verabschieden, ganz ohne Manuskript in der Hand. „Die Dinge für die italienische Wirtschaft laufen gut und werden hoffentlich noch besser“, sagt er. Erfolge wolle er eigentlich keine feiern, aber das ist ihm dann doch wichtig: „Italien hat pro 100 Einwohner mehr Menschen geimpft als Deutschland, als Frankreich, als die USA.“
Nach den Ferien brauche es die gleiche, wenn nicht noch „größere Entschlossenheit“, um sich den dringendsten Problemen des Landes zu stellen. Am Ende wünscht er allen einen schönen Urlaub. „Kommt so in Form zurück, wie ihr es heute seid.“ Dann blickt er mit breitem Grinsen in die Runde. „Eigentlich braucht ihr gar keine Ferien.“ Er klingt dabei so, als würde er auch am liebsten direkt weitermachen.
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