Justizstreit Polen will umstrittene Disziplinarkammer abschaffen – und kommt EU entgegen

Der Vizepremier Polens kündigte an, die Disziplinarkammer in ihrer jetzigen Form auflösen.
Warschau Polen will offenbar verhindern, dass der juristische Konflikt mit EU vollends eskaliert. Jaroslaw Kaczynski, der Präsident der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PIS), hat am Wochenende bekannt gegeben, dass die umstrittene Disziplinarkammer „in der jetzigen Form“ aufgelöst werde.
Diese Rechtsinstitution ist umstritten, seitdem sie 2018 geschaffen worden ist. Sie ist das Herzstück von Polens Justizreformen, welche die PIS seit 2015 schrittweise umsetzt. An die Disziplinarkammer können sich unter anderem Richter wenden, die nicht damit einverstanden sind, dass sie infolge einer von der Regierung verordneten Senkung des Pensionsalters in den Ruhestand geschickt werden.
Schon mehrmals hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) verfügt, dass die Disziplinarkammer ihre Arbeit einstellen müsse. Zuletzt hatten die Juristen in Luxemburg Mitte Juli entschieden, dass die Kammer gegen EU-Recht verstoße.
Sie gaben damit einer von EU-Kommission angestrengten Klage vollumfänglich Recht. Diese bezweifelt, dass die Disziplinarkammer unabhängig von der Regierung entscheidet. Trotz des Entscheids des EuGH hat die Kammer weiter gearbeitet. Letztlich ging es dabei um den alten Streit, ob europäisches über nationalem Recht steht.
Falls Polen beim Konflikt um die Disziplinarkammer nicht eingelenkt hätte, wäre dies dem Land unter Umständen teuer zu stehen gekommen. Die EU-Kommission hatte Polen bis zum 16. August ein Ultimatum gesetzt. Danach hätte sie vor Gericht wohl Strafzahlungen gegen Polen beantragt.
Der Konflikt geht weiter
Dieses Risiko hat Kaczynski nun abgewendet. Trotzdem besteht die Gefahr, dass der Justizkonflikt zwischen der EU und Polen weiter schwelen wird. Die Parteien liefern sich seit Jahren rechtliche Auseinandersetzung, die sich bei weitem nicht nur um die Disziplinarkammer drehen.
So gibt es etwa auch Zweifel, ob das polnische Verfassungsgericht legitim zusammengesetzt ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat das in Frage gestellt: Im Mai hat hatte er ein Urteil des Verfassungsgerichts für ungültig erklärt, da auch dieses nicht unabhängig von der Regierung Recht spreche.
Kaczynskis Rückzieher könnte die Stimmung in Polens Dreiparteien-Regierung weiter verschlechtern. Die PIS regiert nicht allein, sondern in einer Art Spannungsfeld mit der erzkonservativen Partei „Solidarisches Polen“ von Justizminister Zbigniew Ziobro und der mehr wirtschaftsliberalen Vereinigung „Verständigung“ von Jaroslaw Gowin.
Ziobro hat die umstrittenen Justizreformen geschaffen und akzeptiert die Oberhoheit von EU-Recht nicht. In dieser Frage hatte er sich bereits in der vergangenen Woche in Stellung gebracht. Schon am Donnerstag hatte die Präsidentin des Obersten Gerichtshofs verkündet, dass man keine neuen Fälle an die Disziplinarkammer mehr weiterleiten werde, bis die offenen Fragen mit der EU geklärt seien.
Ziobro, der auch das Amt des Generalstaatsanwalts innehat, sagte darauf, dass diese Anordnung gegen polnisches Recht verstosse. Diese Aussage wiederum bestärkte Ziobros Kritiker in ihrer Einschätzung des Justizministers: Dieser habe einmal mehr bewiesen, wie wenig er von einer unabhängigen Rechtsprechung halte.
Das Vorgehen der EU gegen Polen sieht er ohnehin als „Bestechung“ an, wie er in einem Interview mit der bürgerlichen Zeitung „Rzeczpospolita“ vergangene Woche sagte. Der Glaube, dass die EU der gute Onkel sei, der Geld verteile, und Polen im Gegenzug alle Forderungen aus Brüssel befolge, sei falsch, meinte er. Polen solle zwar in der EU bleiben, aber nicht um jedem Preis.Wann dieser für ihn definitiv zu hoch wäre, sagte Ziobro allerdings nicht.
Mehrheit der Polen steht hinter der EU
PiS-Chef Kaczynski will es aber offenbar nicht darauf ankommen lassen. Die Mehrheit der Polen steht zur EU-Mitgliedschaft. Wirtschaftlich ist Polen derzeit das dynamischste Land der EU mit verhältnismässig hohen Wachstumsraten.
Das ist auch eine Folge hoher Investitionen westlicher Unternehmen. Sowohl Dienstleistungsfirmen als auch Industriekonzerne lenken stattliche Beträge ins Land und profitieren dabei auch von Zahlungen der EU, etwa für Infrastruktureinrichtungen.
Diese solide wirtschaftliche Basis hat Polen auch geholfen, die Pandemie besser zu überstehen als andere Länder Europas. Polen ist ein Industriestaat und litt gerade deshalb verhältnismässig wenig unter der Seuche. Das dürfte auch Kaczynski bewusst sein.
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