Kampf gegen Covid-19 EU-Kommissarin für Gesundheit erwartet Corona-Impfstoff zum Jahreswechsel

Die EU-Gesundheitskommissarin ist zuversichtlich, dass der ersehnte Corona-Impfstoff zum Jahreswechsel fertig sein könnte.
Brüssel Ein Impfschutz gegen das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2 ist in Sicht – jedenfalls nach Einschätzung der Europäischen Kommission. „Auch wenn Vorhersagen zum jetzigen Zeitpunkt noch riskant sind, haben wir doch gute Hinweise, dass der erste Impfstoff gegen Ende dieses oder Anfang nächsten Jahres verfügbar sein wird“, sagte EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides dem Handelsblatt in Brüssel.
Bei der Überwindung der Coronakrise spiele der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle. „Jeder Monat, den wir bei der Entwicklung des Impfstoffs gewinnen, rettet Leben und bewahrt Existenzgrundlagen“, sagte die Zypriotin. Der Impfstoff könne zwar nicht auf Anhieb alle Probleme lösen, aber er werde es „schrittweise erlauben, zur Normalität zurückzukehren“, wenn eine „kritische Masse von Bürgern insbesondere in den Risikogruppen“ geimpft worden sei.
Kyriakides äußerte sich besorgt über steigende Infektionszahlen überall in der EU: „Wir sehen eine steigende Zahl kleinerer und größerer Ausbrüche in mehreren Mitgliedstaaten.“ Sie appellierte daher an die EU-Länder, die Infektionsherde „zügig lokal einzugrenzen mit Tests, Kontaktverfolgung und der sofortigen Isolation“ der Betroffenen.
Die Kommissarin schließt nicht aus, dass einige Mitgliedstaaten auch wieder drastische Alltagsbeschränkungen wie im März und April ergreifen könnten: „Die Unsicherheiten rund um das Virus bleiben. Mehr denn je müssen wir jetzt wachsam bleiben und dürfen nicht nachlässig werden, um einen zweiten Lockdown zu vermeiden.“
Die Kommission befindet sich in Verhandlungen mit mehreren Pharmaunternehmen, die an Impfstoffen forschen. Der Konzern Sanofi-GSK sagte zu, über 300 Millionen Impfdosen an die EU zu liefern.
Zuvor hatte sich bereits eine von Deutschland angeführte Allianz bis zu 400 Millionen Dosen eines möglichen Impfstoffs des britischen Unternehmens Astra-Zeneca für die EU gesichert. Die Erfahrung mit Infektionskrankheiten lehrt allerdings, wie schwierig es ist, einen in der Breite wirksamen Impfstoff zur Marktreife zu bringen. Für andere Erreger aus der Familie der Coronaviren gibt es trotz jahrelanger Forschung immer noch kein zugelassenes Vakzin.
Fünf Labore in letzter Testphase
Einem WHO-Bericht von Ende Juli zufolge haben weltweit fünf Forschungslabore beziehungsweise Unternehmen auf der Suche nach einem Impfstoff die dritte und letzte Phase der klinischen Tests erreicht, darunter das deutsch-amerikanische Unternehmen Biontech mit Sitz in Mainz.
Das weltweite Rennen um die Impfstoffe ist in vollem Gange. Viele Regierungen haben schon Lieferverträge mit den in diesem Bereich forschenden Pharmafirmen geschlossen oder in die jeweiligen Unternehmen investiert.
Dass die Zeit drängt, zeigt auch der erneute Anstieg der Infektionszahlen in Europa. Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides sieht die EU aber besser vorbereitet als zu Beginn der Krise. Versorgungsengpässe mit medizinischem Material gebe es jetzt nicht mehr. Die Kommission habe zudem einen Vorrat von Masken, Beatmungsgeräten, Medikamenten und Laborgeräten angelegt.
Kyriakides verweist auch auf die inzwischen in allen EU-Staaten verfügbaren Corona-Warn-Apps. Sie sollen helfen, Infektionsketten nachzuverfolgen und zu unterbrechen. Noch funktionieren diese Anwendungen nur innerhalb der jeweiligen Landesgrenzen. Die Kommission will die nationalen Apps in einem Portal zusammenführen, damit sie EU-weit nutzbar sind. „Das ist natürlich eine komplexe Übung sowohl rechtlich als auch technisch“, räumte die 64-Jährige ein.

Weltweit haben weltweit fünf Forschungslabore beziehungsweise Unternehmen auf der Suche nach einem Impfstoff die dritte und letzte Phase der klinischen Tests erreicht.
Anfang September, so die Hoffnung von Kyriakides, könne die Pilotphase für das EU-Portal starten. Vor wenigen Tagen hatte die EU-Kommission an die Dax-Konzerne SAP und Deutsche Telekom den Auftrag für den Bau einer Schnittstelle – im Fachjargon „Gateway“ – für den länderübergreifenden Einsatz von Corona-Apps beauftragt.
Das Projekt soll ermöglichen, dass die Apps aus unterschiedlichen EU-Staaten länderübergreifend kompatibel sind. Touristen, Geschäftsleute oder Pendler müssen also nicht länger mehrere Corona-Warn-Apps aus unterschiedlichen Staaten installieren.
Das sogenannte Gateway wird jedoch nur Anwendungen verbinden, die Daten möglichst dezentral, also vor allem auf den Smartphones selbst speichern. Insgesamt umfasst das laut EU-Angaben 18 Länder, die eine entsprechende Anwendung veröffentlicht haben oder dies planen.
Neben Deutschland zählen dazu Länder wie Italien, Österreich, Polen und Dänemark. Demgegenüber stehen Staaten, die Daten möglichst zentral erfassen. Das sind derzeit vor allem Frankreich und Ungarn. Die Corona-Apps dieser Mitgliedstaaten werden zunächst nicht mit dem europäischen Datenaustausch kompatibel sein.
Eine Lösung mit solchen Ländern sei noch nicht in Sicht, sagte Telekom-Chefentwickler Peter Lorenz. „Das Thema ist schwerer, da muss man offen sagen: Das wird länger dauern.“ EU-Kommissarin Kyriakides appellierte an die Bürger, die jeweiligen Apps in den Mitgliedsländern zu nutzen: „Je mehr Menschen nationale Apps verwenden, desto wahrscheinlicher ist die positive Wirkung auf die Bekämpfung des Virus und desto besser können wir ihre Wirksamkeit bewerten. Daher ist es wichtig sicherzustellen, dass die EU-Bürger solchen Apps voll vertrauen und sie ohne Bedenken herunterladen und verwenden können.“
Die Daten würden auf der EU-Plattform anonym und vorübergehend gespeichert. Eine eigene Corona-App will die EU-Kommission demnach nicht entwickeln. Während die Corona-Apps grenzüberschreitend funktionieren sollen, sieht Kyriakides die Gefahr, dass einige Mitgliedstaaten auf steigende Infektionszahlen wieder mit einer Schließung von EU-Binnengrenzen reagieren könnten: Es sei wissenschaftlich bewiesen, dass Ein- und Ausreisebeschränkungen innerhalb der EU wirkungslos gewesen seien im Kampf gegen die Ausbreitung von Covid-19.
„Wir appellieren an die Mitgliedstaaten, die Beschränkungen in den kommenden Wochen und Monaten nicht erneut in Kraft zu setzen“, so Kyriakides. Wenn Reisebeschränkungen aufgehoben würden, dann müsse dies für alle EU-Staaten mit vergleichbarer epidemiologischer Lage gelten. „In der EU kann es keine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit geben“, forderte Kyriakides.
Der Hinweis der Gesundheitskommissarin dürfte zum Beispiel für Österreich bestimmt sein: Das Land erschwert die Einreise von Italienern nach wie vor, was die Beziehungen zwischen Wien und Rom seit Monaten erheblich belastet. Für Unmut sorgen auch die von den Außenministerien mehrerer EU-Staaten ausgesprochenen Reisewarnungen. Das Auswärtige Amt warnt zum Beispiel vor Reisen nach Luxemburg, in die belgische Region Antwerpen und in mehrere nordspanische Regionen wie Katalonien.
„Wenn Sie so wollen, testen wir uns in Luxemburg die Grenze zu“, sagte der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn zuletzt dem Handelsblatt. Nach Regierungsangaben testet das Großherzogtum 15 Mal mehr als Deutschland. Ein größerer Testumfang ist zumindest ein Teil der Erklärung für steigende Fallzahlen, da so mehr insbesondere symptomfrei verlaufende Fälle entdeckt werden, die sonst in der Dunkelziffer verbleiben würden.
Die EU-Gesundheitskommissarin wollte sich nicht im Detail zum Vorgehen von Deutschland und anderen Mitgliedstaaten äußern. Für Reisewarnungen seien die nationalen Regierungen zuständig. Nur grundsätzlich warnte Kyriakides: „Es muss vermieden werden, dass ineffektive Beschränkungen und interne EU-Grenzkontrollen wieder eingeführt werden.“
Gesundheitskommissarin stärkt der von den USA kritisierten WHO den Rücken
Im Kampf gegen die Pandemie setzt die EU-Kommission auf einen multilateralen Ansatz. Für die vor allem von der US-Regierung geäußerte Kritik an der Weltgesundheitsorganisation WHO zeigte Kyriakides kein Verständnis.
„Mitten in einer so schweren und beispiellosen Krise können wir nicht gegen unsere wichtigste internationale Gesundheitsorganisation arbeiten“, sagte sie. Man müsse jetzt alles tun, um „eine gemeinsame Reaktion über die WHO zu stärken“. Zu einem späteren Zeitpunkt müsse die Weltgemeinschaft allerdings Lehren aus der Krise ziehen und dabei auch prüfen, wie die Funktionsweise der in Genf ansässigen Sonderorganisation der Vereinten Nationen verbessert werden kann.
US-Präsident Donald Trump attackiert die Weltgesundheitsorganisation wegen ihrer angeblichen großen Nähe zu China und ihres vermuteten Versagens im Kampf gegen Covid-19. Die Vereinigten Staaten sind ihr größter Geldgeber. Trump hatte angekündigt, die WHO verlassen zu wollen.
Erst kürzlich hatten sich laut Reuters Deutschland und Frankreich wegen Meinungsunterschieden mit den USA von den Verhandlungen über eine Reform der WHO zurückgezogen. Die beiden EU-Staaten werfen der amerikanischen Regierung vor, den künftigen Kurs der Weltgesundheitsorganisation trotz der Austrittsdrohung maßgeblich bestimmen zu wollen.
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