Katar Ende des Wüstentraums

Ein reiches, aber isoliertes Land.
Doha Pirouetten auf dem Eis, während draußen die gleißende Sonne den Wüstenstaat auf die 50-Grad-Marke hochheizt. Ein paar Jungen und wenige kleine Mädchen laufen mit Schlittschuhen über das Eis im Erdgeschoss eines Einkaufszentrums. „City Center Doha“, heißt es und ist die Attraktion im Stadtzentrum der Hauptstadt Katars. Im „Villagio“, der edlen Shoppingmall unweit der „Aspire Zone“, wo Spitzensportler in klimatisierten Hallen mit Unterstützung modernster Technologien trainieren oder die Kicker vom FC Bayern im Winter ihre Ballübungen durchführen, lassen sich schwarz gewandete katarische Frauen auf venezianischen Gondeln durch künstliche Kanäle vor imitierter Venedig-Kulisse schippern.
Der gleiche Wahnsinn wie immer, stets an der Grenze zwischen Eleganz und Dekadenz. Katar simuliert Normalität. Simuliert – denn eigentlich ist seit jenem 5. Juni nichts mehr, wie es einmal war. Seit die arabischen Bruderstaaten Katar wie einen Aussätzigen aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen und eine Blockade zu Land, zu Wasser und in der Luft verhängt haben, kämpft der reichste Staat der Welt, der wie ein Appendix im Osten des riesigen Saudi-Arabiens in den Persischen Golf hineinragt, um seine Unabhängigkeit.
Hamsterkäufe wie in den ersten zwei Tagen, nachdem Saudi-Arabien die einzige Landgrenze zur Halbinsel dicht gemacht hat, sind nicht mehr zu beobachten. „Als wir von der Blockade hörten, haben wir sofort vier Säcke Reis gekauft“, sagt Shir Khan, ein 33-jähriger Banker, der ursprünglich aus Kerala in Indiens Süden stammt, nun aber seit fünf Jahren in der Filiale einer katarischen Bank in Doha arbeitet. Er packt mit seiner Frau – die in Katar in einem Hotel arbeitet – gerade Brokkoli und Knoblauch in den Einkaufswagen, in dem bereits ein Huhn, Eier, verschiedene Päckchen mit Gewürzen und sogar einige T-Shirts liegen. Aber kein Reis. „Wir spüren keine Krise mehr“, sagt er. Es gebe alle benötigten Waren.

Die Blockade Katars hat erst zu Hamsterkäufen geführt, jetzt zu mehr Angeboten einheimischer Lebensmittel.
Tatsächlich hat die katarische Führung alles unternommen, um die offensichtlichen Spuren der Blockade zu beseitigen. Geld ist ja da, das macht vieles möglich. Bloß keine Panik im Land, und bloß nicht nachgeben – das ist die Stimmung unter den Eliten des Landes. Und so bemerkt ein katarischer Regierungsvertreter süffisant: „Wir bekommen nun Milch aus der Türkei. Die kostet nur vier statt acht Rial (gut einen statt zwei Euro), und ist auch viel cremiger. Die Saudis haben immer mit Wasser gestreckt.“ Und in den Supermärkten prangen nun immer öfter Aufsteller mit der Beschriftung „Qatar Products“. Katar will nun noch entschlossener Selbstversorger werden, heißt es aus dem Wirtschaftsministerium.
Das ist der Mut der Verzweifelten. Denn all die Simulation von Normalität kann nicht darüber hinwegtäuschen: Seit Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain und Ägypten vor gut zwei Wochen wegen angeblicher Terrorfinanzierung und der intensiven Kontakte zum verhassten Iran die diplomatischen Beziehungen zu Katar abgebrochen haben, befindet Katar sich in der tiefsten politischen Krise seit der Staatsgründung 1971.
Das US-Außenministerium äußert inzwischen ungeduldig Kritik am Vorgehen der Nachbarstaaten gegen Katar: Das State Department sei „verwundert“, dass Saudis und Emiratis noch immer nicht ihre Anschuldigungen gegen Doha veröffentlicht hätten. Man frage sich in Washington, ob es Katars Gegnern tatsächlich um die angebliche Terrorfinanzierung gehe „oder um lange köchelnden Zwist zwischen den Golfstaaten“, bohrte die Sprecherin von Außenminister Rex Tillerson nach.
Doch Saudi-Arabien zeigt auch nach dieser deutlichen Kritik seiner Schutzmacht Amerika Härte. Auch die jüngste Beförderung von Mohammed bin Salman zum Thronfolger in Riad gilt in diplomatischen Kreisen in Doha als Alarmsignal: „Das heißt, die Saudis werden den Konflikt noch verschärfen.“ Ermuntert dazu seien Riad und Abu Dhabi durch den Besuch von US-Präsident Donald Trump vor wenigen Wochen, auch wenn Tillerson jetzt andere Töne anschlägt. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate fühlten sich jetzt frei, die gesamte Region „in einer Weise umzuformen, wie sie es seit langem wollen“, sagt Karen Young vom Arab Gulf States Institute in Washington. Alles deute auf eine lange und sich verschärfende Krise hin.
Unglückliche Kamele
Blickt man hinter die Oberfläche, sieht man schon jetzt die menschliche Tragödie, die die Blockade auslöst: Im Human Rights Committee, einem grauen Hochhaus hinter dem alten Basarviertel, tragen sich täglich Hunderte Menschen in Listen ein, um Hilfe zu beantragen. Etwa eine junge Frau namens Sarah. Sie hat Angst, ihre Tochter zu verlieren. Die Siebenjährige, die wegen ihres Vaters nach arabischem Recht nur die saudische Staatsbürgerschaft besitze, solle auf Druck Riads, Doha verlassen, klagt sie. Die voll verschleierte Frau hat Angst, ihren vollständigen Namen will sie nicht nennen. Jetzt steht sie im siebten Stock des Human-Rights-Gebäudes und füllt Formulare aus. „Saudi-Arabien, Bahrain und die VAE zwingen ihre Staatsbürger zurückzukommen. Doch meine Tochter und mein Mann waren noch nie dort“, klagt sie. „Wenn sie nicht nach Saudi-Arabien reist, soll ihr Pass aberkannt werden. Aber wie soll sie dann hier ohne Dokumente jemals zur Schule gehen können?“, fragt sie.
Einem Saudi sei sogar verboten worden, seinen sterbenden Vater in einer Klinik in Doha zu besuchen. Stattdessen musste er sofort in die Heimat zurückzukehren, berichtet Saad Al-Abdulla vom Menschenrechtszentrum. Einige Kataris hätten ihre Krankenhausaufenthalte in Nachbarstaaten zwangsweise beenden müssen. Denn innerhalb von 14 Tagen nach Verhängung der Sanktionen gegen Katar hätten alle geschätzt 13 000 Kataris aus den Blockadestaaten ausreisen müssen. „So etwas hat es noch nie gegeben“, klagt Abdulla. „Sie bestrafen Menschen, die mit der Krise nichts zu tun haben, völlig unschuldige Menschen.“
Auch wirtschaftliche Tragödien hat die Golf-Krise bereits hervorgebracht: „Ich musste Saudi-Arabien verlassen und kann nun meine 300 Kamele und 5 000 Schafe nicht mehr versorgen. Sie haben mich aus dem Land gejagt“, erzählt ein etwa Mittfünfziger, der gut 30 Jahre im Nachbarland gelebt hat und aus Angst vor Repressionen seinen Namen nicht nennen will. Einige Rennkamele kosteten mehrere Millionen Dollar. Und auch nach Katar könne er sie nicht holen: Kamele seien sensible Tiere und sehr an ihre angestammte Umgebung gewöhnt.
Andere Tiere, vor allem Kühe, sollen indes die Nahrungsmittelversorgung Katars sichern: 4 000 „Holsteiner“ Rassekühe aus Australien und Amerika hat Moutaz Al Khayyat, Vorsitzender der Power International Holding, inzwischen gekauft. Er wolle „nun etwas für sein Land tun“, sagt er. In 60 Flügen soll Qatar Airways die Tiere, die je knapp 600 Kilogramm wiegen, nun ins Land bringen. Qatar Airways – gerade auf der Pariser Air Show wieder zur besten Fluggesellschaft der Welt gekürt – hat aber erhebliche Probleme. Zwar sagt Airline-Chef Akbar Al Baker, der drahtige kleine Mann mit der flotten Zunge: „Soweit es uns betrifft, ist es ‚Business as usual‘ – die Geschäfte laufen wie gewohnt weiter.“
Doch auch das scheint Wunschdenken. Es gibt derzeit nur eine kleine Flugschneise, über die die grau-violetten Maschinen aus Doha nordwärts fliegen können – nach Iran. Alle anderen Routen sind Al Baker versperrt, und bei einer Verschärfung der Krise könnte Bahrain, das den Luftraum über Katar verwaltet und der schärfste Kritiker Katars ist, auch diese Notschleuse noch dichtmachen. Katar versucht jetzt vor internationalen Gerichten, seinen Luftraum wieder unter eigene Kontrolle zu bekommen.
Emirate verbieten Schiffsbetankung
Auch zu Lande sei alles in Ordnung, lässt Ghanim Al Kuwari wissen. Der Ingenieur verantwortet den Bau der Stadien für die Fußball-WM 2022. „Alles läuft nach Plan“, versichert er in einem Empfangssaal unweit des Al Bayt-Stadions. Zu sehen sind die Kräne um die Baustelle inmitten der Wüste indes kaum: Ein veritabler Sandsturm bläst so heftig, dass die mangelhafte Sicht bei der Anfahrt schon neun Fahrzeuge in einen schweren Verkehrsunfall geführt hatte. „Vielleicht werden wir schon vor dem für Ende 2018 geplanten Zeitpunkt fertig.“ Und die Blockade? „Wir haben die meisten Materialien vorrätig“, verspricht der Ingenieur. Und eine Stahlkonstruktion, die eigentlich in einem der Blockadestaaten gefertigt werden sollte, „wird jetzt direkt aus Italien zu uns verschifft. Das wird sogar qualitativ besser und billiger“, prophezeit Al Kuwari. Auch hier also die Simulation von Normalität.
Hält die Blockade an, ist die langfristige Versorgung des Emirats keinesfalls gesichert. Zwar kommen nun Lebensmittel aus der Türkei oder Iran per Schiff direkt in den Hamad Port unweit der Hauptstadt Doha. Aber Frachter, die den bisher für Katar wichtigsten Hafen – Jebel Ali in Dubai – anlaufen, dürfen nicht weiter zur Halbinsel. Und Schiffsdiesel dürfen katarische Boote in den VAE auch nicht mehr tanken. Hektisch wird nun daran gearbeitet, eigene Betankungsanlagen vor allem für die im Hafen von Ras Laffan zu bauen, wo die Giganten mit den runden Kuppeln aus Stahl mit verflüssigtem Erdgas (LNG) befüllt werden.
Gigantische Rohre kreuzen hier die staubigen Straßen, gewaltige Wasserfälle speien das verbrauchte Kühlwasser zurück ins Meer. Hier stehen die größten Flüssiggasanlagen der Welt, Katar ist globaler Marktführer für LNG und verfügt über die größte LNG-Flotte. „Unsere Exporte sind nicht bedroht, wir bleiben ein absolut zuverlässiger Lieferant“, verspricht Saad al-Kaabi, Chef von Qatar Petroleum, dem Herrscher über das größte Gasfeld der Welt – North Dome.
Von seinem QP-Tower, einem nachts grell leuchtenden Riesen mit gewaltiger Aussichtsplattform, blickt er über Doha. Er sieht, was in diesem kleinen Land in wenigen Jahren entstanden ist: Eine moderne Kapitale, die Rivalen wie Dubai Konkurrenz macht, und die dank der Milliarden für Fußballklubs, Übertragungsrechte und der Austragung von Fußball-WM, der kommenden Leichtathletik-Weltmeisterschaft und weiterer globaler Meisterschaften zur Weltkapitale des Sports werden soll.
Und er sieht immer mehr riesige Plakate des seit 2013 herrschenden, heute erst 37-jährigen Emir Tamim bin Hamad Al-Thani an den Fassaden der Wolkenkratzer oder Aufkleber mit dem Konterfei des Herrschers samt Aufschrift „glorreicher Tamim – unser Emir für immer“. Seit Ausbruch der Katar-Krise wird dieser Personenkult auf die Spitze getrieben.

Seit Ausbruch der Katar-Krise wird dieser Personenkult auf die Spitze getrieben.
Um zu erfahren, worum es in diesem arabischen Bruderzwist wirklich geht, hilft ein Blick in die Geschichte des Emirats. Im Jahr 1971 – aus dem als Schutz vor den Saudis und Bahrainis selbst gesuchten Protektorat der Briten in die Unabhängigkeit entlassen – wollte sich Katar erst den Vereinigten Arabischen Emiraten anschließen. Doch die Selbstständigkeit war verlockender. Der Vater des heutigen Emirs hatte seinen Vater 1995 noch gewaltlos von der Macht geputscht, musste gesundheitlich angeschlagen aber an seinen Sohn übergeben. Die erste friedliche Machtübertragung eines noch lebenden Monarchen am Golf. Aber die politischen Probleme blieben: Katar war wegen des kritisch über die arabischen Staaten berichtenden katarischen TV-Senders Al Dschasira sowie politischer und finanzieller Unterstützung der Hamas-Palästinenserführung im Gaza-Streifen und der Moslembruderschaft in Ägypten vor allem in Saudi-Arabien immer höchst umstritten.
„Die Saudis sahen Katar schon immer als Teil ihres Territoriums an“, sagt ein hochrangiger Manager in einem der Towers der Skyline von Doha. „Sie wollten zeigen, wer die wahre Macht hat“, bestätigt ein westlicher Vertreter in Doha.
Gerade deshalb sammeln sich die Kataris – gut 300.000 Staatsbürger und über zwei Millionen Gastarbeiter, die den katarischen Traum in Beton gießen und die Banken und Hotels am Laufen halten – um den jungen Emir. Deshalb auch die Durchhalteparolen wie die von Außenminister Mohammed bin Abdulrahman Al Thani: Katar sei „so stark“, dass es Sanktionen „ewig durchhalten“ könne. Und er fügt hinzu: „Wir verhandeln erst, wenn die Blockade aufgehoben wird.“ Die Souveränität würden sie niemals aufgeben, auch Amerika würde Katar nie fallen lassen – allein wegen der über 10.000 Mann starken US-Militärbasis südwestlich der Hauptstadt, von wo die USA den Krieg gegen den IS führen. Doch seit Trumps Besuch bei den Saudis, kann sich da niemand wirklich sicher sein.
Deutsche Firmen betroffen
Die Unsicherheit spüren inzwischen auch die vielen deutschen Unternehmen, die in Katar Geschäfte machen. Direkt spüre man die Auswirkungen des Boykotts noch nicht, aber: „Wir schlafen mit einem offenen Auge, aber wir schlafen durch“, berichtet der CEO einer in Katar stark engagierten Firma. Seinen Namen möchte er nicht nennen, denn „in den anderen Golfstaaten sieht man es ungern, wenn man sich jetzt positiv zu Katar äußert, und wir sind auch in Saudi-Arabien und den VAE engagiert“. Bislang sei nur das Reisen in der Region wegen der Luftraumsperrung viel schwieriger und teurer geworden. Doch die Logistikkette sei keineswegs sicher, wenn die Krise lang anhalte, ergänzte er.
Zu den in Katar aktiven Firmen gehört auch Herrenknecht: 21 Bohrschilde des Weltmarktführers aus dem baden-württembergischen Schwanau haben gleichzeitig in der Rekordzeit von nur 26 Monaten 111 Kilometer Metro-Tunnel unter Doha gebuddelt. Der Projektentwickler von Dorsch hilft dabei, die nagelneue Stadt Lusail aus dem Wüstenboden zu stampfen. Die deutsche Bahn koordiniert mit beim Ausbau des Nahverkehrs. Siemens liefert Turbinen, ein Tramsystem für die Hauptstadt, baut die Stromversorgung aus und hat ein Programmbüro für die Arbeiten zur Fifa-WM 2022 eingerichtet.
Deutsche Firmen, an denen der Staatsfonds Qatar Investment Authority (QIA) oder die Emirfamilie über Investmentvehikel mit 30 bis 35 Milliarden Euro beteiligt sind – ob bei Volkswagen, Deutscher Bank oder auch Siemens – müssen sich zumindest kurzfristig keine Sorgen machen. Finanzminister Ali Shareef Al Emadi sagt, sein Land sei „sehr zufrieden mit seinen Investments“ und habe „genug finanzielle Feuerkraft“. Die wird er auch brauchen. Schon jetzt sei wegen des stark gefallenen Ölpreises der Immobilienmarkt erheblich unter Druck: „Um die Liquidität zu halten, verkaufen sich die großen Unternehmerfamilien schon jetzt gegenseitig Hochhäuser, und die meisten stehen halb leer“, weiß ein Insider. Und der Staatsfonds QIA habe bereits damit begonnen, Milliarden bei katarischen Banken anzulegen, um den Abzug von Anlagen saudischer und anderer arabischer Investoren auszugleichen.
Noch fliegen nachts die Funken wie ein Wasserfall aus Licht, wenn an der Ausfallroute der künftigen Metro geschweißt wird – und zeugen von dem katarischen Wirtschaftswunder. Doch wie lange noch? Die Unsicherheit, sie kriecht seit jenem 5. Juni in den kleinen Wüstenstaat – langsam, aber unaufhaltsam.
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