Klimapolitik Kampf um die Kernkraft: Wie in Brüssel um die Zukunft der Nuklearenergie gerungen wird

Über den Beitrag, den die Atomkraft zum Klimaschutz leisten kann, wird in Brüssel gerungen.
Brüssel, Berlin Die Zukunft der Nuklearenergie entscheidet sich an einem Wort: „signifikant“. Klingt absurd, doch es trifft den, nun ja, Kern der Sache. Denn Technologien müssen künftig das „do no significant harm“-Prinzip erfüllen, wenn sie in Europa als grüne Anlageklasse infrage kommen sollen. So will es die „Taxonomie“, eine EU-Verordnung, die Investoren Klarheit über die Folgen ihrer Anlageentscheidungen für die Umwelt geben und damit mehr Kapital in die Bekämpfung des Klimawandels leiten soll.
Seit Monaten wird in Brüssel darum gerungen, ob Nuklearenergie das Klimasiegel erhält. Dafür spricht, dass bei der Kernspaltung kein CO2 anfällt, Atomstrom ist damit weit klimafreundlicher als Strom aus Kohle oder Gas. Dagegen spricht, dass Atomkraft eine Hochrisikotechnologie ist und auf massive Ablehnung in Teilen der Bevölkerung trifft.
Eins ist sicher: Nach der Bundestagswahl wird die Debatte an Brisanz gewinnen. Denn mit Frankreich, das mehr als 70 Prozent seines Strombedarfs mit Atomkraftwerken deckt, hat die Kernkraft einen entschlossenen Vorkämpfer – und mit Deutschland, das im kommenden Jahr den letzten Nuklearreaktor vom Netz nimmt, einen nicht minder entschlossenen Gegner.
Um den Konflikt zu entschärfen, hat die EU-Kommission vorgeschlagen, die Frage, ob Atomstrom als grün gelten kann, vorerst aus der Taxonomie-Verordnung auszuklammern – genauso wie die Frage, ob Erdgas als Brückentechnologie als klimafreundlich gewertet wird. Doch diesen Plan haben nun die Mitgliedstaaten durchkreuzt. Mit knapper Mehrheit stimmten sie dafür, die Entscheidung über das Gesetz in die zweite Novemberhälfte zu verschieben.
Die Franzosen befürchteten, dass eine Abtrennung der Entscheidung über Atomkraft vom Rest der Taxonomie ihre Verhandlungsposition schwächen würde. Die Bundesregierung sorgte sich um den Brückentechnologiedstatus von Erdgas, sodass auch sie für eine Verschiebung stimmte. Für einen Moment standen Berlin und Paris im Taxonomie-Streit Seite an Seite.
„Ohne jede Not hat die Bundesregierung die französische Nuklear-Lobby gerettet“, sagte Sven Giegold, Sprecher der deutschen Grünen im Europaparlament, dem Handelsblatt.
Einigkeit zwischen Deutschland und Frankreich nur taktisch
Die Einigkeit zwischen Deutschland und Frankreich ist flüchtig, sie ist nur taktisch motiviert. In der Sache bleiben ihre Positionen unvereinbar. Die nächste Bundesregierung, in der die Grünen aller Voraussicht nach vertreten sind, wird den Grundsatzstreit über die Taxonomie fortsetzen müssen – und, so darf man annehmen, einen noch schärferen Kurs fahren. Die Ablehnung der Atomkraft ist für die Grünen eine Frage der Identität. Zudem gibt es einen interessanten Widerspruch in der französischen Position.
Giegold weist darauf hin, dass sich Frankreich mit „Greenfin“ schon ein nationales Siegel für grüne Investments zugelegt hat, das brisanterweise genau das tut, was die Grünen von der EU-Taxonomie fordern: Kernenergie ausschließen. „Die Besonderheit des Siegels besteht darin, dass Fonds, die in Unternehmen investieren, die im Bereich der Kernkraft und der fossilen Brennstoffe tätig sind, ausgeschlossen sind“, heißt es auf der Webseite des französischen Umweltministeriums über Greenfin.
Ein Rechtsgutachten der Kanzlei Redeker Sellner Dahs liefert den Kritikern der Kernenergie noch weitere Argumente. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, die Kernenergie könne nicht als „ökologisch nachhaltig“ im Sinne der EU-Taxonomie-Verordnung angesehen werden. Damit würde sie als nachhaltige Geldanlage ausscheiden.
Die Kernenergie leiste auch „keinen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz“, schreiben die Gutachter weiter. Es sprächen außerdem überzeugende Argumente dagegen, dass Kernenergie als „Übergangstätigkeit“ im Sinne der einschlägigen EU-Verordnungen angesehen werden könne, denn diese beziehe sich auf CO2-intensive Aktivitäten, für die es derzeit keine CO2-arme Alternative gebe. Kernenergie könne „die Voraussetzungen für eine Übergangstätigkeit nicht erfüllen, wenn sie zugleich als CO2-arm angesehen wird“, heißt es in dem Gutachten.
Die Nachhaltigkeit der Kernkraft sei auch deshalb zu verneinen, weil es ihr an Resilienz gegenüber Auswirkungen des Klimawandels, insbesondere mit Blick auf steigende Wassertemperaturen und Dürreperioden, mangele.
Tatsächlich kommt es beispielsweise in Frankreich seit Jahren im Sommer immer wieder zu Betriebsunterbrechungen bei Kernkraftwerken, weil es an Kühlwasser aus Flüssen mangelt oder das Wasser der Flüsse zu warm ist. Außerdem bestehe das empirisch nachgewiesene Risiko schwerer Unfälle; hinzu kämen die Risiken der Endlagerung von hochradioaktivem Müll.
Schlussfolgerungen des Gutachtens nicht unumstritten
Die Kanzlei hat das Gutachten im Auftrag des von der Grünen-Politikerin Leonore Gewessler geführten österreichischen Umweltministeriums angefertigt. Die renommierte Kanzlei war in den vergangenen Jahren im Zusammenhang mit der in Deutschland geführten Debatte über den Ausstieg aus der Atomkraft häufig für die Betreiber von Kernkraftwerken tätig. Die „taz“ hatte zuerst über das Gutachten berichtet.
Die Schlussfolgerungen der Kanzlei sind allerdings nicht unumstritten. Der wissenschaftliche Dienst der EU-Kommission „Joint Research Center“ (JRC) war im März zu dem Ergebnis gekommen, der Betrieb von Kernkraftwerken und die Endlagerung von radioaktiven Stoffen richteten „keinen signifikanten Schaden“ für die Umwelt an, deshalb könne die Kernkraft in der EU-Taxonomie als klimafreundlich gelten.
Diese Position hatte in Deutschland scharfe Kritik ausgelöst. Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) hatte Schlussfolgerungen des JRC als „fachlich mangelhaft und nicht haltbar“ bezeichnet. Sie warnte vor einem „Etikettenschwindel“ durch Atomkraft. „Der Schaden wäre immens für die Glaubwürdigkeit der Taxonomie und damit für alle, die Kapital für wirklich nachhaltige Investments benötigen“, sagte Schulze.
Beobachter in Brüssel rechnen allerdings damit, dass die Kernenergie den Nachhaltigkeitsstatus der EU am Ende erhalten wird. Denn für Frankreich ist die Taxonomie zur Prestigefrage geworden. Für Paris wäre es eine Blamage, wenn die französische Energiestrategie als nicht-nachhaltig gelabelt würde.
Die französische Position wird auch von EU-Industriekommissar Thierry Breton unterstützt. Der Franzose spricht sich für ein Comeback der Kernkraft aus – als Energiequelle für die Produktion von klimaneutralem Wasserstoff.
„Wir sollten diese Übergangsenergie nutzen, um den Aufbau einer sauberen Wasserstoffindustrie in Europa zu erleichtern“, hatte Breton kürzlich gefordert. Er plädiert dafür, nicht nur auf „grünen“, das heißt aus erneuerbaren Energien wie Wind und Strom gewonnenen Wasserstoff, sondern auch auf „gelben“ Wasserstoff zu setzen – auf Wasserstoff also, der klimaneutral aus Atomstrom hergestellt wird.
„Breton hat seine Aufgabe nicht verstanden“
Die Grünen gehen mit diesem Vorschlag hart ins Gericht. Breton betreibe einseitig Interessenpolitik für Frankreich, kritisierte Felix Banaszak, Chef der NRW-Grünen.
„Offenbar hat Breton seine Aufgabe nicht verstanden, die industrielle Zukunft der gesamten Europäischen Union zu gestalten – und die liegt nicht in der Kernkraft als vermeintlicher Brückentechnologie, sondern im massiven Ausbau der Erneuerbaren im Verbund und mit den Potenzialen in Gesamteuropa“, sagte der Grünen-Politiker. Eine Aufnahme des „gelben“ Wasserstoffes in die EU-Taxonomie würde den Wettbewerb enorm zulasten derer verzerren, die wirklich auf Zukunftstechnologien setzten.
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