Klimawandel Debatte mit Spalt-Potenzial: Warum sich der Streit um Kernkraft vor der Klimakonferenz zuspitzt

International gibt es eine breite Debatte über die Zukunft der Technologie.
Berlin, Düsseldorf Kernkraft gilt in Deutschland als technologischer Irrweg. Doch weltweit erlebt sie ein Comeback: 51 neue Nuklearreaktoren befinden sich nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) im Bau, 14 allein in China.
Wenn es nach dem US-Investor Bill Gates geht, werden es künftig noch mehr. Im Interview mit dem Handelsblatt wirbt Gates dafür, im Kampf gegen den Klimawandel auch Kernkraft zu nutzen – und setzt sich kritisch mit der deutschen Energiepolitik auseinander.
Atomkraftwerke abzuschalten „macht es schwerer, Versorgungssicherheit und günstige Preise zu gewährleisten“, mahnt Gates. „Wir dürfen keine Lösung ausschließen.“ Der Strombedarf werde global dramatisch steigen. Neue, besonders sichere und abfallarme Atomreaktoren könnten helfen, das Klimaproblem zu lösen. Dagegen sei Gas, zentraler Bestandteil der deutschen Klimastrategie, als Brückentechnologie fragwürdig.
Wenige Tage vor der Weltklimakonferenz in Glasgow erhält der Streit über Nuklearenergie damit neue Nahrung. Nach dem schweren Reaktorunfall in Fukushima schien das Schicksal der Technologie eigentlich besiegelt zu sein. Doch angesichts der drohenden Klimakatastrophe und rasant steigender Energiekosten hat international ein Umdenken begonnen.
Auch in der EU wird über diese Renaissance debattiert. Frankreich will Atomstrom als „grün“ klassifizieren und hat sich die Unterstützung osteuropäischer Staaten gesichert. Kernkraftgegner schlagen Alarm: „Kernenergie hat inhärente Risiken, die Abfallproblematik ist ungelöst. All das zu ignorieren hat mit Realpolitik nichts zu tun“, warnt der Grünen-Politiker Reinhard Bütikofer.
Atomkraft-Befürworter finden zunehmend Gehör
Atomkraft? Nein danke. Der Slogan aus den 80er-Jahren gilt auch noch heute in Deutschland. Tatsächlich bleibt die Technologie hochproblematisch. Der radioaktive Müll strahlt viele Tausend Jahre, bislang ist weder hierzulande noch irgendwo sonst ein sicheres Endlager gefunden worden. Auch sind Kernkraftwerke teuer und praktisch unversicherbar. Reaktorkatastrophen wie in Tschernobyl 1986 und in Fukushima 2011 verdeutlichten die gewaltigen Risiken und besiegelten den deutschen Atomausstieg.
Doch inzwischen dreht sich die Stimmung, selbst in Europa. Die Argumente der Atomkraft-Befürworter finden zunehmend Gehör. Kernreaktoren liefern verlässlich CO2-freien Strom. Wenn Europa bis 2050 klimaneutral werden will, erscheinen Kernreaktoren als naheliegende Option.
Auch der aktuelle Energieengpass beeinflusst die Debatte. Teures Erdgas treibt die Strompreise in die Höhe, die Umstellung auf alternative Energiequellen wie Sonne und Wind nährt Zweifel an der Zuverlässigkeit der Stromversorgung.
Vor wenigen Wochen setzten sich zehn EU-Mitgliedstaaten unter der Führung von Frankreich für Kernenergie ein. Selbst die Niederlande, die lange Kernkraft-kritisch waren, überlegen, wieder Atomkraftwerke zu bauen – ein Vorhaben, das in den USA, China oder Japan schon umgesetzt wird.
USA lassen Mini-Kernkraftwerke bauen
Ein wichtiger Antreiber dieses technologischen Trends ist Bill Gates. Für eine Milliarde Dollar baut die von Gates finanzierte Firma Terrapower zusammen mit GE Hitachi im US-Bundesstaat Wyoming einen natriumgekühlten Laufwellenreaktor. Der sogenannte Small Modular Reactor (SMR) ist eine Art Mini-Kernkraftwerk.
Vor wenigen Monaten erhielt das Konsortium 160 Millionen Dollar vom US-Energieministerium, um in den nächsten fünf bis sieben Jahren zwei Reaktoren mit einer Leistung von jeweils 345 Megawatt zu bauen, das entspricht etwa einem Viertel der Leistung eines typischen deutschen Reaktors.
Mehr Sicherheit, hohe Energieeffizienz und weniger radioaktiver Abfall: Das sind die Versprechen von Terrapower. „Wir glauben, dass Natrium die Energiebranche grundlegend verändern wird“, sagt Gates. Die kleinen Reaktoren sollen dezentral aufgebaut werden, mehr Sicherheit bieten und Strom liefern, wenn der Wind nicht bläst oder die Sonne nicht scheint.
Trotz solcher Innovationen bleibt das Thema Kernkraft in Deutschland tabu. Es findet sich so gut wie kein Politiker, der sich für sie einsetzt. Eine Ausnahme ist Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), der sich vorsichtig zumindest für weitere Forschung in dem Feld ausspricht.
Frankreich ist der größte europäische Fürsprecher
Ganz anders die Lage in Frankreich: Die französische Regierung will eine Milliarde Euro in die Entwicklung von kleinen modularen Reaktoren investieren. Zugleich steht Frankreich an der Spitze der EU-Staaten, die sich in Brüssel dafür starkmachen, Kernkraft als „grüne“ Technologie zu klassifizieren. Damit steuern Paris und Berlin auf einen Grundsatzkonflikt zu.
Denn die Bundesregierung lehnt ein Öko-Label für Kernenergie ab. Atomkraft sei eine „Hochrisikotechnologie“ und dürfe daher nicht mit Wind- und Solarstrom gleichgestellt werden, stellte die scheidende Umweltministerin Svenja Schulze in einem Brief an die Kommission klar.
Ihre Amtskollegen aus Luxemburg, Dänemark, Spanien und Österreich schlossen sich ihr an. Doch die Atomkraftgegner könnten schon in den nächsten Wochen im EU-Kreis überstimmt werden.
Für Frankreich, das zum Jahreswechsel die europäische Ratspräsidentschaft übernimmt, ist die Förderung der Nukleartechnologie eine Frage der Souveränität. „Wir haben nicht über Jahrzehnte die Energieunabhängigkeit unseres Landes um die Atomkraft gebaut, um nun in der Hand von Wladimir Putin zu sein“, sagte Wirtschaftsminister Bruno Le Maire kürzlich.
Scharfe Kritik an der französischen Position kommt von den Grünen: „Wenn die Alternative lautet, sich entweder Putin oder der Atomkraft ausliefern zu müssen, dann wäre es eine ganz andere Debatte“, sagt der Europa-Abgeordnete Reinhard Bütikofer. Aber die energiepolitische Realität sei eine andere.
„Denn es gibt die Perspektive des beschleunigten Ausbaus der erneuerbaren Energien“, so Bütikofer. „In Sachen Kosten ist die Atomkraft den Erneuerbaren weit unterlegen.“
Deutsche Studie beurteilt Mini-AKW kritisch
In den Unionsparteien ist die Neigung, die Atomdebatte neu zu führen oder gar die für das kommende Jahr geplante Stilllegung der letzten deutschen Kernkraftwerke infrage zu stellen, ebenfalls gering. „Wir haben keine Lösung für das Endlager-Problem gefunden und für Europas Klimaziel, den CO2-Ausstoß bis 2030 um 55 Prozent zu senken, eignen sich neue Atommeiler ohnehin nicht“, betont Christian Ehler, Europapolitiker der CDU.
Auch die von Gates vorangetriebene Technologie der Mini-Atomkraftwerke wird in Deutschland kritisch bewertet. Das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung hat dazu eine Studie beim Öko-Institut, bei der TU Berlin und dem Physikerbüro Bremen in Auftrag gegeben.
Danach können die Mini-Meiler zwar „potenziell sicherheitstechnische Vorteile gegenüber großen Atomkraftwerken vorweisen“. Doch müssten „viele Tausend bis Zehntausende“ Reaktoren gebaut werden, was Fragen zur Sicherheit, zum Transport, Rückbau sowie zur End- und Zwischenlagerung aufwerfen würde.
Vor allem die Gefahr der Proliferation – der Nutzung für militärische oder terroristische Zwecke – würde mit der hohen Anzahl der Reaktoren steigen. Auch könnten radioaktive Lecks entgegen den Versicherungen der Betreiber nicht ausgeschlossen werden.
Die von Gates vorangetriebenen Natrium-Kernreaktoren sind auch in den USA umstritten. Die Technologie „ist reine Zeit- und Geldverschwendung“, meint Edwin Lyman, Physiker und Direktor Atomsicherheit bei der amerikanischen Stiftung United Concerned Scientists.
Lyman ist kein Umweltschützer, der aus Prinzip Atomkraft ablehnt. Er befürwortet den Einsatz herkömmlicher Leichtwasser-Atomkraftwerke. Natrium-Reaktoren sind seiner Meinung nach nicht sicherer oder effizienter, dafür teurer und unerprobt.
Einig sind sich fast alle: Es ist bisher zu wenig über SMR-Technologie geforscht worden. Verfechter wie Gates sehen das indes nicht als Nachteil, sie betonen die Chancen. Zu lange sei nichts unternommen worden, dabei könnten die alten Probleme der Kernkraft mit neuer Technologie überwunden werden.
Terrapower griff eine alte Idee wieder auf
Schon in den 50er-Jahren schlug der russische Physiker Saveli Feinberg einen Reaktortyp vor, der mit den „Schnellen Brütern“ wie im niederrheinischen Kalkar auch verwirklicht wurde – bis der Unfall in Tschernobyl 1986 die Forschung daran beendete.
Die Idee griff die 2008 gegründete Firma Terrapower auf und brachte „einige der besten Kernphysiker und Computermodellierer zusammen“, wie Gates in seinem Buch „Wie wir die Klimakatastrophe verhindern“ schreibt.
Das Team richtete sich in Bellevue im US-Bundesstaat Washington ein Labor mit Supercomputern ein, um dort digitale Simulationen verschiedener Reaktorkonstruktionen ablaufen zu lassen. „Wir glauben, ein Modell entwickelt zu haben, bei dem alle wichtigen Probleme gelöst sind“, schreibt Gates.
Terrapower und die Partner der Firma sind so überzeugt von ihrem Know-how, dass sie auf den Bau eines Prototypen verzichten. Der geplante Reaktor in Wyoming gleicht damit einer Operation am offenen Herzen.
So bleiben erhebliche Zweifel: „Ohne bedeutend mehr Fokus und Engagement ist es unwahrscheinlich, dass die Technologie in den nächsten zehn bis 15 Jahren für eine kommerzielle Anwendung bereit sein wird“, urteilt die Bank Barclays in einer Studie über die Technologie. Im besten Falle sei damit nach 2035 zu rechnen.
Zu spät, um dabei zu helfen, das Klimaversprechen der EU einzulösen, die Emissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent zu verringern.
Mehr: EU-Kolumne: Die Atomkraft wird zurückkommen – ob Deutschland das will oder nicht
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Absolut notwendig über den Tellerrand zu schauen! Danke für die umfangreichen Tabellen zur Aufklärung der Kernkraftaktivitäten und Prioritäten in anderen Ländern in Europa und weltweit. Dieses Tabuthema in Deutschland hat dazu geführt, dass die Welt der Medien hierzulande einfach den Kopf in den Sand steckt. Herr Bütlikofer verschließt sich selbst der Realität, wenn er einerseits die Öffnung der Nordstream 2 verhindern will (was ich richtig finde), aber andererseits das Weiterlaufen der restlichen AKWs vehement ablehnt (was aus Sicht der Energiewende und aus volkswirtschaftlicher Sicht totaler Unsinn ist). Andere Länder machen es vor, dass beides geht, CO2 freie Energie aus Atomkraft und aus erneuerbaren Technologien. Zunächst geht es doch bei uns nur darum, noch laufende AKWs einfach laufen zu lassen. Aber schon wird versucht, durch Zweifel an der Sicherheit und Effektivität der neu in die Diskussion gebrachten Mini-Meiler das Thema Atomkraft tot zu reden. Frankreich zeigt uns seit Jahren, wie das Energie- und Klimathema am besten in den Griff zu bekommen ist. Da fällt einem der Satz von Albert Einstein ein: „Halte dich von negativen Menschen fern. Sie haben ein Problem für jede Lösung“
Herr Müller, Diskussionsbeiträge sind selbstverständlich immer willkommen! Der von Ihnen gepostete leidet nur daran, dass er wissenschaftliche Objektivität nur suggeriert diese aber tatsächlich nicht liefert (Stichworte sind Scientists for Future, "Gefährlichkeit" und "sozial-ökologische Tranformation"). Mit anderen Worten: Das Ding ist leider wertlos, um eine objektive Aussage über die Nutzung/Nutzbarkeit von AKW zu treffen...
Mehr zum Thema:
https://zenodo.org/record/5573719#.YXvaMxxCTRZ
@Hr. Henseler: ich habe selten so viel Unfug gelesen.
"Es gab in der Vergangenheit auch immer Leute die gegen die Eisenbahn, die Elektrizitaet, die Gasleitungen etc waren"
Ich bin nicht gegen Fortschritt - ganz im Gegenteil. Die Zusammenhänge erschließen sich mir nicht.
"Aber da Sie aus dem Pott sind: Haben Sie eine Ahnung wieviel Menschen durch Grubenungluecke, an Staublunge etc gestorben sind. Und wie im Pott
in der fuenfziger Jahren die Luftqualitaet war?"
Was hat das jetzt mit dem Thema zu tun?
"An Verstrahlung ist kaum je einmal jemand gestorben - auch nicht in Tschernobil. Und die sehr wenigen Unfaelle, praktisch ohne Todesopfer"
Wenn Sie das ernst meinen, fehlen mir die Worte.
Die Idee Atomkraftwerke als Brückentechnologie weiter in Betrieb zu belassen und auch weiter auf Kohle und Gas zu setzen halte ich für sinnvoll.
Aber es sollten die erneuerbaren Energien schnell und gut ausgebaut werden, mit guten Konzepten:
"Mach Dir eine PV-Anlage aufs Dach und speise ein. Du erhältst eine kWh Gutschrift je eingespeister kWh, die Du dann auch selbst wieder verbrauchen kannst. Das musst Du NICHT in Deiner Steuererklärung angeben, damit hast Du weniger Aufwand. Am Jahresende kannst Du die nicht benötigten kWh für z.B. 11 Cent an den Netzbetreiber verkaufen - das musst Du aber versteuern - der Netzbetreiber schreibt Dir genau, wie das geht - EINFACH!" oder " Du bekommst nur 9 Cent und der Netzbetreiber führt die Steuern ab - und Du hast NICHTS mit den Steuern am Hut"
Jetzt hab ich mal so eine Idee aufgeschrieben - das einzige, was mich an meiner tollen PV Anlage stört, ist die BÜROKRATIE dahinter! Warum kann das nicht so einfach wie Online-Banking gehen?
Mir ist bewusst, dass die Speicherproblematik dann immer noch nicht geklärt ist, ebenso das Thema Grundlast und Versorgungssicherheit.
Herr Kamil F: Natuerlich steht es Ihnen frei sich gegen Kernkraft zu stellen. Es gab in der
Vergangenheit auch immer Leute die gegen die Eisenbahn, die Elektrizitaet, die Gas-
leitungen etc waren. Aber da Sie aus dem Pott sind: Haben Sie eine Ahnung wieviel
Menschen durch Grubenungluecke, an Staublunge etc gestorben sind. Und wie im Pott
in der fuenfziger Jahren die Luftqualitaet war? An Verstrahlung ist kaum je einmal jemand
gestorben - auch nicht in Tschernobil. Und die sehr wenigen Unfaelle, praktisch ohne
Todesopfer, Three-Mile-Island, Tschernabil, Fukushima waeren leicht vermeidbar gewesen.
@Hr. Hanselmann: verraten Sie mir doch, wo Sie wohnen. Dann werde ich mich politisch mit aller Macht einsetzen, dass Sie eine lokale Stromversorgung auf Kernkraftbasis erhalten. Wie wäre es mit direkt 5 Leichtwellenreaktoren vor Ihrer Haustür? Sollte Sie ja nicht abschrecken, wenn ich Ihrer Argumentation folge.
Alternativ können Sie sich ja auch für eine Endlagerung in Ihrer Region einsetzen, um weitere Unsicherheiten und Probleme aus der Welt zu schaffen.
Währenddessen setze ich mich strikt dagegen ein. Und freue mich weiterhin über PV- und Windkraft direkt vor meiner Haustür, wo auch Speichertechnologien aufgebaut werden.
Grüße ausm Pott!!
Zweifel bleiben? Es gibt immer und fuer alles Zweifel. Im Zweifel fuer den Angeklagten!
Grüne wollen alles gleichzeitig, ohne einen realistischen Plan nennen zu können wie es gehen soll und das auch noch ganz schnell. Deutschland mit Windrädern und Solarplatten zupflastern soll die Lösung sein? Wie schnell geht das? Und wo sind die dafür nötigen Großspeicher? In einem Agora-Bericht vom März 2021 steht „Um den deutschen Strombedarf an einem durchschnittlichen Wintertag auch nur für einen halben Tag aus Stromspeichern zu decken, müsste man Speicherkapazitäten in der Größenordnung von 180 GW Leistung und 720 GWh Kapazität errichten.“ Das wären fast eine Million Container gefüllt mit Batterien zu gigantischen Kosten. Wann haben wir die? Und was ist mit mehrtägiger Flaute? Und H2? Überall da, wo die kostbare grüne Leistung direkt ins Netz gespeist werden kann, ist H2 Unsinn, weil dabei viel zu viel elektrische Energie verschwendet wird. Außer wir haben bundesweit so viel Grünstrom, dass wir nicht mehr wissen wohin damit. Wann ist das? Ich sehe Atomkraft dann nicht als Hochrisikotechnologie, wenn es gelingt, die Halbwertszeit des Mülls drastisch zu verringern. Daran sollte man arbeiten. Die Reaktoren selbst sind mir sicher genug wenn man es richtig macht. Tschernobyl (falscher Reaktor, falsches Experiment) und Fukushima (krasser Architekturfehler mit Notstrom am Meer) sind keine geeigneten Abschreckungsbeispiele