Koalitionen Viele kleine Parteien, aber eine Regierung: Wie andere Länder Mehr-Parteien-Koalitionen bilden

Mit einer kreativen Lösung verhinderten Politiker in Irland eine Blockade nach der Wahl 2020.
Brüssel, Madrid, Stockholm, London, Rom In den vergangenen Jahren wurde es für europäische Politiker immer schwieriger, stabile Regierungen zu bilden. Die Gesellschaften verändern sich und mit ihnen die Parlamente: Die Volksparteien werden immer kleiner, viele neue Gruppen kommen hinzu. Wie schafft man es, trotzdem eine stabile Regierung zu bilden?
Das Beispiel Italien zeigt, dass es geht, wenn man es wirklich will. Die „Regierung der nationalen Einheit“ von Ministerpräsident Mario Draghi besteht aus neun Parteien, die zusammen 85 Prozent der Sitze im Parlament haben. Am Kabinettstisch sitzen Linke und Rechte zusammen, Sozialdemokraten und Konservative, dazu Minister der Kleinstparteien.
Die Regierung ist aus der Not geboren, Draghi übernahm inmitten der Coronakrise. Die Verhandlungen gingen schnell, nach dem Rücktritt von Vorgänger Giuseppe Conte vergingen gerade mal 18 Tage bis zur Amtsübernahme.
Seit Februar wird Italien so stabil geführt wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Das liegt vor allem an Draghis Autorität und Regierungsstil – aber auch an den fähigen Technokraten, die der ehemalige Zentralbanker auf entscheidende Ministerposten gesetzt hat.
Einen ähnlichen Ruck bräuchte es auch in den Niederlanden, wo im März gewählt wurde, eine Koalition aber noch nicht absehbar ist. Viele der 17 Parteien lassen sich kaum in eine Regierung einbinden. Obwohl die Partei VVD des amtierenden Ministerpräsidenten Mark Rutte Stimmen hinzugewonnen hat, fällt es ihm nun schwer, ein Angebot zu machen, das für mehrere Partner gleichzeitig attraktiv ist.
Kreative Lösung in Irland
Neben dem zersplitterten Parteiensystem gibt es dafür einen weiteren wichtigen Grund: Rutte hat nach der Wahl öffentlich „die Unwahrheit“ gesagt und wurde dabei erwischt. Nun muss er seinen Partnern weit entgegenkommen, um sie davon zu überzeugen, ausgerechnet mit ihm eine Koalition einzugehen.
Allerdings steht er dabei nicht unter Druck: Solange niemand eine Koalition gegen ihn bilden kann, bleibt er geschäftsführend im Amt. Je länger dieser Zustand anhält, desto eher könnten die Abgeordneten bereit sein, seinen Skandal zu vergessen. Es kann also noch dauern, bis eine neue Koalition steht.
Mit einer kreativen Lösung verhinderten Politiker in Irland eine Blockade nach der Wahl 2020. Dort taten sich zwei konservative Parteien zusammen, die zuvor als Erzrivalen galten und zudem beide die Wahl verloren hatten.
Wichtiger war beiden aber, die linke Partei Sinn Fein mit ihren historischen Verbindungen zur Terrororganisation IRA von der Macht fernzuhalten. Auch die Grünen machten mit, sonst hätte es nicht gereicht.
Da die Koalitionsparteien Fianna Fail und Fine Gael ungefähr gleich stark sind, einigten sie sich darauf, das Amt des Ministerpräsidenten zu teilen. Derzeit regiert Micheal Martin von Fianna Fail, im kommenden Jahr übergibt er das Amt an Leo Varadkar von Fine Gael, der schon vor der Wahl Ministerpräsident gewesen war. Die Regierung ist stabil, was vor allem daran liegt, dass die Parteien inhaltlich nicht weit auseinanderliegen.

Stabilere Regierung als bei seinen Vorgängern.
Noch komplizierter ist das Machtgefüge in Lettland. Aus den Wahlen am 6. Oktober 2018 war kein eindeutiger Sieger hervorgegangen. Zwei Abgeordnete scheiterten mit dem Versuch, eine neue Regierung zu bilden.
Nach dreieinhalb Monaten intensiver Verhandlungen entstand dann eine höchst ungewöhnliche Regierung: Sie wird getragen von zwei konservativen, zwei populistischen und einer liberalen Partei. Regierungschef ist Krisjanis Karins von der Vienotiba, der kleinsten der sieben Fraktionen im Parlament. Er regiert stabiler als die meisten seiner Vorgänger.
Gezanke in Spanien
Mit vergleichbaren Problemen kam in Spanien im Januar 2020 die zweite Regierung von Sozialist Pedro Sanchez ins Amt. Über seinen Koalitionspartner Podemos hatte Sanchez im Jahr zuvor gesagt, er „könnte ebenso wenig ruhig schlafen wie 95 Prozent der Spanier“, wenn die Partei Teil der Regierung sei.
Grund waren die Forderungen der Linkspopulisten nach Kernministerien wie Finanzen, Sozialversicherung und Arbeit. Doch nach vier Wahlen in vier Jahren und einer Reihe von wackeligen Minderheitsregierungen war klar, dass es eine möglichst stabile Regierung braucht.
Sanchez’ Regierung stützt sich auf 44 Prozent der Abgeordneten im Parlament und braucht die Hilfe kleiner Parteien – unter anderem auch der katalanischen Unabhängigkeitsbefürworter, die ihre Machtposition weidlich ausnutzen und immer neue Zugeständnisse fordern.
Das Gezänk rückte durch die Coronakrise in den Hintergrund. Die Milliarden aus dem EU-Fonds halfen Sánchez Ende vergangenen Jahres, erstmals einen eigenen Haushalt durch das Parlament zu bringen. Es sieht deshalb so aus, als würde Sánchez eine volle Amtszeit bis 2023 Regierungschef bleiben.

Wenig schmeichelhafte Worte über den neuen Koalitionspartner.
Damit übernimmt Spanien ein Modell, das in Skandinavien schon lange praktiziert wird. In Dänemark, Schweden und Norwegen stützen sich Regierungen oft auf mehrere Parteien und haben dennoch keine eigene Mehrheit im Parlament.
So stützen sich die dänischen Sozialdemokraten auf die rechtspopulistische Volkspartei. In Norwegen suchten die Regierungschefs früherer Jahre stets die parlamentarische Hilfe bei der rechtspopulistischen Fortschrittspartei. In Schweden haben sich die Sozialdemokraten trotz Kooperationsabkommen mit Grünen und Sozialisten häufig Unterstützung von den Konservativen geholt.
Die Situation akzeptieren und ungewöhnliche Wege gehen – das kann Deutschland von anderen Ländern lernen. Der Politikwissenschaftler Uwe Jun von der Universität Trier sagt, dass es noch einen weiteren Erfolgsfaktor gibt: Stabil seien Koalitionen dann, wenn sich die Partner gegenseitig nicht zu sehr in die Quere kommen.
Gerade in den großen Koalitionen in Deutschland habe es zu viele Kompromisse gegeben. Jun spricht von „traditionellen Koalitionsverträgen“. Besser sei, wenn sich Parteien gegenseitig Projekte und Erfolge gönnen, den Ministern also viel Handlungsspielraum lassen.
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