Kolumne „Globale Trends“ Die magischen 16 Zukunftsindustrien

Handelsblatt-International-Correspondent Torsten Riecke analysiert jede Woche in seiner Kolumne interessante Daten und Trends aus aller Welt. Sie erreichen ihn unter [email protected].
Die Gesellschaft für deutsche Sprache kürt jedes Jahr Ende November das „Wort des Jahres“. Für die Wirtschaft scheint das Rennen in diesem Jahr bereits gelaufen: Industriepolitik ist das globale ökonomische „buzz word“ 2021.
Chinas starker Mann Xi Jinping fördert seit Langem gezielt Industriebranchen, in denen sein Reich die Weltspitze erobern will. In den USA hat Präsident Joe Biden die „industrial policy“ wiederentdeckt: „Lange wurde es als peinlich angesehen, wenn jemand für Industriepolitik eintritt. Jetzt sollte es als etwas nahezu Selbstverständliches gelten“, sagt sein Sicherheitsberater Jake Sullivan. Und Europa sucht mithilfe der Industriepolitik nach nationalen oder europäischen Champions, die der EU „strategische Souveränität“ und Resilienz sichern sollen.

Der Chipmangel, der die Bänder in den Autofabriken zum Stillstand gebracht hat, zeigt die strategische Bedeutung von Schlüsselindustrien besonders drastisch.
Wo aber sollen die staatlichen Industriepolitiker ihr Werkzeug ansetzen, an welchen Schrauben sollen sie drehen? Das McKinsey Global Institut (MGI), die Denkfabrik der gleichnamigen Unternehmensberatung, hat in einer gerade veröffentlichten Studie 16 Zukunftsindustrien im verarbeitenden Gewerbe ausfindig gemacht, die für Wohlstand, Wettbewerbsfähigkeit und nationale Sicherheit von strategischer Bedeutung seien. Die Liste reicht von der Chipindustrie über Medizin- und Kommunikationstechnik bis hin zu Basismetallen, Autoteilen und Präzisionswerkzeugen.
Der Fokus der MGI-Studie liegt zwar auf den USA. Doch die Ergebnisse sind für industrielle Kraftwerke wie Deutschland noch wichtiger, liegt der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung hierzulande doch etwa doppelt so hoch wie jenseits des Atlantiks.
Hinzu kommt, dass die Industrie gerade so etwas wie eine Renaissance im nationalen Bewusstsein vieler Länder erlebt. Das liegt einmal daran, dass die Pandemie den größeren Dienstleistungssektor viel stärker getroffen hat, während Industriebetriebe besser durch die Lockdowns gekommen sind.
Es liegt aber auch an der wachsenden Rivalität zwischen den USA der EU und China, die um die Resilienz ihrer globalen Wertschöpfungsketten und die industrielle Dominanz bei den Zukunftstechnologien ringen. Gerade wenn es um die Innovationsführerschaft und das Produktivitätswachstum geht, ist die Industrie nach wie vor der wichtigste Motor der entwickelten Volkswirtschaften – die genau deshalb Industrieländer genannt werden.
Industriepolitik für die Mittelklasse
Der Chipmangel, der die Bänder in den Autofabriken zum Stillstand gebracht hat, zeigt die strategische Bedeutung von Schlüsselindustrien besonders drastisch. Kein Wunder also, dass die Industriepolitik von einem Tabubruch der reinen Marktwirtschaft wieder zu einer Allzweckwaffe im Ringen der Wirtschaftsmächte geworden ist.

Biden lässt gerade prüfen, welche offenen Flanken die US-Industrie noch hat. Seine Antwort darauf hat er schon gegeben: „Buy American!“ Dahinter steckt die Erkenntnis, dass viele Industriebranchen nur dann stark sein können, wenn ihre Produkte auch auf dem Heimatmarkt stark gefragt sind.
„Die USA sind weltweit führend im Chipdesign, aber bei der Produktion der nächsten Generation von Sieben- und Fünf-Nanometer-Chips sind sie ins Hintertreffen geraten; ihr Anteil an der weltweiten Produktionskapazität ist von 37 Prozent im Jahr 1990 auf heute zehn Prozent gesunken“, schreiben die MGI-Forscher.
Was tun, hat schon Lenin gefragt. Die McKinsey-Experten fordern mehr öffentliche Investitionen und staatliche Beihilfen sowie eine gezielte Ankurbelung der Inlandsnachfrage für die Schlüsselindustrien.
Und hier beginnt die eigentliche industriepolitische Debatte, die in den USA bereits zu kuriosen Allianzen geführt hat. Dort ziehen linksliberale Freihandelsgegner und erzkonservative Militärs an einem Strang, um Schlüsselindustrien wie die Halbleiterbranche von China abzukoppeln.
Industriepolitische Eingriffe galten unter Ökonomen lange als Gift für die wirtschaftliche Effizienz. Seit jedoch nicht mehr allein Marktgesetze, sondern immer öfter Industriepolitiker den globalen Wettbewerb bestimmen, ist die reine Freihandelslehre auch bei Volkswirten nicht mehr unumstritten.
Biden hat das erkannt. Und er scheut sich nicht, seine Industriepolitik stärker an den Interessen der amerikanischen Mittelklasse auszurichten.
Das mag auf den ersten Blick wie eine neue Version von „America first“ aussehen. Wenn es den Industrieländern jedoch nicht mehr gelingt, zu Hause ausreichend gut bezahlte Jobs und soziale Aufstiegschancen für die breite Masse zu schaffen, werden Freihandel und Globalisierung von nationalistischen Populisten demontiert.
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