Konjunktur Konsum statt Lockdown: Türkische Wirtschaft wächst um 6,7 Prozent

Menschen spazieren wenige Stunden vor der Sperrstunde entlang der Haupteinkaufsstraße.
Istanbul Die türkische Wirtschaft ist im dritten Quartal überraschend gewachsen. Wie die nationale Statistikbehörde Tüik bekanntgab, stieg das Bruttoinlandsprodukt um 6,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Insgesamt 14 von Bloomberg befragte Analysten hatten im Schnitt mit einem Wachstum von 4,8 Prozent gerechnet.
Das hohe türkische Wirtschaftswachstum ist ein Erfolg für die türkische Regierung, die mit einem weitreichenden Hilfsprogramm auf die Coronakrise reagiert hatte. Die staatlichen Hilfen haben aber auch teure Nebeneffekte. In den nächsten Monaten droht ein konjunktureller Einbruch – und ein kompletter Lockdown.
An den Märkten wurden die guten Konjunkturdaten am Montag positiv aufgenommen. Ein US-Dollar vergünstigte sich am Montagvormittag (Ortszeit) von 7,85 auf 7,82 türkische Lira. Der Euro kostete 9,36 Lira, nachdem der Kurs bei 9,40 Lira je Euro in den Handel gestartet war. Vor allem der private Konsum trieb im Sommer das türkische Bruttoinlandsprodukt an. Haushaltsausgaben wuchsen um neun Prozent. Die Bruttoanlageinvestitionen, ein Maß für die Investments von Unternehmen, stiegen um 23 Prozent.
Nach einem harten Lockdown im Frühjahr hatte Ankara mit groß angelegten Konjunkturhilfen Unternehmen und Verbraucher unterstützt. Vor allem drängte die Administration die Banken dazu, die Kreditvergabe anzukurbeln.
Gleichzeitig hatte die Zentralbank durch die Aufnahme von Staatsanleihen Liquidität bereitgestellt und bis Juni die Leitzinsen um insgesamt 15,75 Prozentpunkte gesenkt. Damit gehörten die inflationsbereinigten Kreditkosten der Türkei im Sommerquartal zu den niedrigsten der Welt. Die gewichteten durchschnittlichen Finanzierungskosten sanken bis Juli auf 7,34 Prozent und stiegen dann für den Rest des Quartals auf 11,1 Prozent. Inzwischen sind sie auf knapp 15 Prozent angestiegen.
Unternehmen profitierten von Lockerungen im Sommer
Das Kreditwachstum blieb dadurch den ganzen Sommer über robust und verlangsamte sich erst gegen Ende des dritten Quartals. Auch bei der Realwirtschaft setzte die Regierung in Ankara auf konjunkturelle Entspannung. Viele Unternehmen veröffentlichten bereits äußerst gute Geschäftszahlen für das dritte Quartal, die häufig über den Erwartungen von Unternehmensanalysten lagen.
Mit der Aufhebung der meisten virusbedingten Beschränkungen im dritten Quartal gewann auch der Inlandstourismus an Tempo. Auch Flughäfen wurden für die meisten ausländischen Touristen geöffnet, ebenso wie Restaurants, Hotels und andere Betriebe. So durften etwa ab Juli Touristen aus Russland und der Ukraine wieder einreisen. Sie bilden einen großen Anteil an allen ausländischen Touristen in der Türkei.
Die teilstaatliche Fluggesellschaft Turkish Airlines profitierte ebenfalls von den Lockerungen im Sommer. Das Ergebnis vor Steuern und Abschreibungen (Ebitda) sank zwar Corona-bedingt um 56 Prozent. Das war aber immer noch neun Prozentpunkte höher, als Analysten vor Bekanntgabe geschätzt hatten. Der Gesamtumsatz fiel um 51 Prozent – beim Konkurrenten Lufthansa war er im selben Zeitraum um 74 Prozent eingebrochen.
Auch sind in diesem Jahr so viele Autos gekauft worden wie schon lange nicht mehr. Von Januar bis Oktober wurden 588.354 Fahrzeuge verkauft, eine Viertelmillion mehr als im Vorjahr. Und das, obwohl die Regierung zuletzt die Steuern auf Neuwagen erhöht hat. Die Analysten der türkischen Beratungsfirma Oyak Yatirim haben ihre Schätzung für das Gesamtjahr von 715.000 auf 730.000 verkaufte Pkws erhöht.
Laut Baran Celik von der Exportvereinigung der türkischen Automobilindustrie (OIB) zieht auch die Produktion von Automobilen in der Türkei wieder an. Das liegt auch an der gestiegenen internationalen Nachfrage nach der ersten Infektionswelle. „Im Frühjahr haben wir beim Export nach Deutschland einen herben Rückgang verzeichnet, doch seit September haben wir wieder das Normalniveau erreicht“, sagt Celik.
Er rechnet im Automotive-Sektor mit Gesamtexporten nach Deutschland in Höhe von bis zu vier Milliarden US-Dollar in diesem Jahr. Im Jahr 2019 lag das Exportvolumen in dem Sektor bei 4,4 Milliarden US-Dollar.
Der „Aufschwung im Abschwung“ hat einen Nebeneffekt
Die vielfältigen Konjunkturhilfen haben jedoch ihren Preis. Der „Aufschwung mitten im Abschwung“ wurde mit einer schwachen Währung erkauft: Die Lira hat seit Jahresbeginn 24 Prozent an Wert zum US-Dollar verloren. Die Inflation stieg auf ein zweistelliges Niveau und liegt derzeit bei knapp zwölf Prozent.
Die Bruttoreserven der Zentralbank dürften bis Jahresende um 30 Prozent auf 71,5 Milliarden US-Dollar absinken, schätzt die Ratingagentur Capital Intelligence. Die Staatsschulden dürften demnach von 32,8 Prozent des BIP auf 41,7 Prozent anwachsen. Das ist im Vergleich zu vielen EU-Mitgliedstaaten jedoch immer noch ein hervorragender Wert.
Die positiven Konjunkturdaten dürfen daher nicht darüber hinwegtäuschen, dass die türkische Wirtschaft sich immer noch im Krisenmodus befindet. Die Exporte sind im Jahresvergleich um 22 Prozent gesunken, während Importe um 16 Prozent zugelegt hatten.
Gleichzeitig sind die Infektionszahlen in der Türkei zuletzt überdurchschnittlich angewachsen. Allein am vergangenen Sonntag hatten sich in dem Land 29.281 Menschen mit dem neuartigen Coronavirus infiziert, so viele wie in keinem anderen europäischen Land. 185 Menschen starben mit oder an dem Virus.
Maue Aussichten für das vierte Quartal
Das Bild für das vierte Quartal ist daher weniger rosig. Das liegt auch an einem Umdenken in der Finanzpolitik. Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte nach dem Wahlsieg von Joe Biden in den USA den Notenbankchef und seinen Finanzminister ausgetauscht. Anschließend stiegen die Leitzinsen zum ersten Mal seit 2018 wieder, von 10,25 auf 15 Prozent. Erdogan sprach in diesem Zusammenhang von einer „bitteren Pille“.
Nach zwei Teil-Lockdowns am Wochenende kursieren in türkischen Medien bereits Gerüchte, die Regierung könnte in den nächsten Tagen schärfere Maßnahmen einleiten, um das Infektionsgeschehen einzudämmen. Auch ein 15-tägiger Komplett-Lockdown steht den Gerüchten zufolge zur Debatte.
Offizielle Stellungnahmen zu den Vermutungen gibt es bislang nicht. Klar ist jedoch, dass neue Maßnahmen der Konjunktur zusetzen werden. „Das vierte Quartal wird auf ein langsameres Wachstumsbild hindeuten“, sagt Enver Erkan vom Investmenthaus Tera Yatirim.
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