Kriminalität Organisiertes Verbrechen in Lateinamerika stellt sich neu auf

In Mexiko habe der Masken-Schmuggel zugenommen.
Mexiko-Stadt In Zeiten einer Pandemie hat es nicht nur die Wirtschaft schwer, sondern auch das Organisierte Verbrechen. In Mexiko dominieren Kartelle einen riesigen Teil der Schattenwirtschaft, und auch in anderen Staaten Südamerikas spielt die Organisierte Kriminalität in der Ökonomie der Länder eine wichtige Rolle.
Aber wenn die Grenzen und Geschäfte geschlossen sind und die Bevölkerung zu Hause größtenteils zu Hause, stocken der Drogen- und Menschenschmuggel, sind die Bordelle dicht und hakt die Entführungsindustrie. Und vor allem: Die mexikanischen Drogenkartelle können ihr synthetisches Rauschgift kaum noch produzieren, da die Grundstoffe aus China fehlen.
Die Verbrechersyndikate hätten aber immer eine „erstaunliche Kapazität“ bewiesen, ihre Geschäftsfelder in Krisenzeiten zu diversifizieren, sagt der Experte für Organisierte Kriminalität, Edgardo Buscaglia, im Gespräch mit dem Handelsblatt. So gebe es jetzt Hinweise darauf, dass sie in den Schmuggel von Masken und medizinischer Schutzkleidung eingestiegen seien.
Zudem würden die Kartelle ihre eigenen Kredite an Bedürftige, die bei den Banken keine Chance auf Geld hätten, vergeben. „Am Ende von Krisen stehen die Mafias meist besser da als vorher,“ unterstreicht Buscaglia, der als Dozent an der Columbia-Universität in New York und der Universität von Turin lehrt.
So gibt es auch in der Coronakrise Anzeichen dafür, dass das Organisierte Verbrechen in Mexiko rasch auf andere Geschäftszweige umgestiegen ist. Plünderungen großer Supermärkte, bei denen weniger Lebensmittel, sondern teure elektronische Ware wie Fernseher gestohlen wurden, könnten ein Anhaltspunkt für verschobene Schwerpunkte sein.
Neue Geschäftsfelder
Auch der Benzindiebstahl, also das Anzapfen der Pipelines des staatlichen Ölkonzerns Pemex, werde zunehmen, vermuten Sicherheitsexperten. Zudem steigen in Mexiko-Stadt schon jetzt die Überfälle auf Passanten und die Diebstähle von Autos deutlich an.
In Brasilien will die Regierung den Armen wegen der Coronakrise über drei Monate Sozialhilfe zahlen. Dafür hat sie eine App eingerichtet, über die sich Bedürftige einschreiben können. Geschätzte 20 Millionen Menschen könnten so schnell an Hilfe kommen – wenn die Gelder nicht vorher von Kriminellen abgezweigt werden. 6,7 Millionen Brasilianer sind in wenigen Tagen bereits von Betrügern kontaktiert worden, denen sie über gefakte Apps ihre Konto-Daten übermitteln sollten.
Experten beobachten in Brasilien in den vergangenen Wochen einen rasanten Anstieg der Internet-Kriminalität. Der mögliche Grund: Die traditionellen Mafias haben ihren wichtigsten Erwerbszweig verloren.

Der Drogenhandel wird durch die Coronakrise beeinträchtigt, da Sendungen besser überwacht werden können.
In Coronazeiten sind auch der Drogenhandel und die Geldwäsche beeinträchtigt. Den Drogenkartellen aus Kolumbien – aber auch aus Peru, Bolivien, Paraguay und Brasilien – fällt es immer schwerer die Konsumenten in Brasilien, Chile und Argentinien mit Kokain zu versorgen.
„Jetzt sind die Sendungen leichter zu überwachen. Es gibt keine Autos auf den Straßen, keine startenden Flugzeuge und keine fahrenden Schiffe. Jede verdächtige Bewegung ist leicht zu erkennen“, sagte Frédéric Massé, einer der Direktoren von Red Coral, einem Netzwerk zur Beobachtung des Organisierten Verbrechens in Lateinamerika gegenüber der brasilianischen Tageszeitung Estado de São Paulo.
Geldwäsche und Schutzgelder
Wie sehr die traditionellen Aktivitäten leiden, zeigt sich in Mexiko besonders stark. Der Stopp bei den transpazifischen Lieferketten legt sich wie Mehltau auf die Geschäfte der hoch diversifizierten Kartelle.
Nach Informationen der Kriminalitätsexperten von Insight Crime, einem auf das Organisierte Verbrechen in Lateinamerika spezialisierten US-Nachrichtenportal, sind die Mafias vor allem durch den Lieferausfall aus China betroffen. Und das gleich doppelt: Sie erhalten von dort nicht mehr das künstliche Opioid Fentanyl, welches sie zur Herstellung von Heroin benötigen oder direkt in die USA „exportieren“.
Zum anderen ist auch der Import an geschmuggelten elektronischen Artikeln, Schmuck und Anziehsachen weggefallen. Das sieht man vor allem in „Tepito“ in Mexiko-Stadt, dem größten Markt für Schmuggelware und illegale Gegenstände aller Art in der Metropole.
Die Bande „La Unión Tepito“ kontrolliert hier die Ladenbesitzer, welche die chinesische Schmuggelware verkaufen und kassiert dafür Schutzgelder. Mit dem Handel waschen die Kartelle traditionell einen Teil ihrer Drogengelder.
Doch jetzt sei der Schmuggel gestoppt, heißt es bei Insight Crime. Weil „Los Marco Polos“, die Gruppe innerhalb des Tepito-Kartelles, die nach China reiste und einkaufte, nun nicht mehr fliegen kann. Schon im Januar begannen die Ladenbesitzer gegen die Schutzgelderpressungen zu rebellieren, da ihre Umsätze deutlich eingebrochen seien.
„Soziale Rolle“ der Kartelle
Auch der Drogenschmuggel nach Norden wird für die beiden Marktführer, das Sinaloa-Kartell und die Widersacher vom „Kartell Jalisco Neue Generation“ (CJNG), schwieriger. Denn wegen des Virus wird die Grenze zu den USA stärker kontrolliert.
Der kleine Grenzverkehr ist reduziert, weil die Unternehmen auf beiden Seiten der Grenze ihre Fertigung heruntergefahren haben. Gleichzeitig sinkt die Nachfrage nach künstlichem Heroin in den USA, weil immer mehr Menschen wegen Corona daheim bleiben.
Doch in der Krise entdecken die alteingesessenen Kartelle auch wieder ihre karitative Seite. In den Bundesstaaten Tamaulipas und Michoacán, die zu den Hotspots des Organisierten Verbrechens in Mexiko gehören, haben jetzt die örtlichen Banden Nahrungsmittel an Bedürftige ausgeliefert.
Lokale Medien und auf Narco-Themen spezialisierte Blogs berichteten und veröffentlichten Fotos, wie das Cártel del Golfo (Golf-Kartell) Kisten gefüllt mit Öl, Reis, Bohnen, Zucker und Dosennahrung in Armenvierteln ausgab.
Auf den Kartons prangten Aufkleber, auf denen steht: „Golf-Kartell zur Unterstützung von Ciudad Victoria, Señor 46, Cowboy“. Das ist der Kampfname des Chefs vom Golf-Kartell in Ciudad Victoria, der Hauptstadt von Tamaulipas. Die Reaktionen in den sozialen Netzwerken ließen nicht lange auf sich warten. „Die Kartelle tun mehr für die Armen als der Präsident“, war häufig zu lesen.
Für den Kriminalitätsexperten Buscaglia wird diese „soziale Rolle“ der Kartelle zukünftig weiter wachsen. „Angesichts der großen Wirtschaftskrise, in die der mexikanische Staat nach Corona fallen wird, wird sich das Organisierte Verbrechen zu einem Staat im Staate entwickeln und als Unterstützer für die Bevölkerung noch wichtiger werden“.
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