Massenauswanderung Staatskrise in Venezuela: Ein Land blutet aus

Von den 35.000 Venezolanern, die täglich nach Cúcuta kommen, kehren die meisten abends wieder zurück und suchen woanders Tagelöhnerjobs
Caracas, Bogotá Ihren ältesten Sohn hat Socorro Mora irgendwann schweren Herzens ziehen lassen. Cristian Mora war 20 Jahre alt und und ohne Perspektive in dem Venezuela von Nicolás Maduro, wo die Hyperinflation die kargen Löhne wegfrisst. Der gelernte Motorradmechaniker ging nach Kolumbien, in das Land, aus dem seine Mutter vor Jahrzehnten selber nach Venezuela kam.
Damals war der Ölstaat ein prosperierendes Land, und er bot Arbeit und Auskommen. Damals zog Venezuela Menschen aus der ganzen Welt an, die auf der Suche nach einem besseren Leben waren. „Nie hätte ich gedacht, dass wir mal selber darüber nachdenken, hier wieder weg zu gehen“, sagt Socorro Mora. Doch schon seit Jahren reicht das Geld nicht mehr, was sie als Hausmeisterin und ihr Mann Mauricio als Taxifahrer für sich und ihre drei Söhne verdienen.
Seit zwei Jahren lebt Cristian Mora nun in Bogotá, hat Arbeit als Motorradmechaniker gefunden und schickt seinen Eltern jeden Monat ein paar Dollars. Auch José Quintero hat vor knapp zwei Jahren das Weite gesucht. Für ihn ging es um Leben und Tod. Quintero war Aktivist in Catia, einem der größten Armenviertel von Caracas. Seine Organisation „Pro Catia“ sparte nicht mit Kritik an der chavistischen Regierung.
Und so wurde Quintero, heute 60 Jahre alt, von den Colectivos, den paramilitärischen Motorradgangs der Regierung, verprügelt und bedroht. Freunde in den USA schickten ihm ein Flugticket. Seit dem 27. März 2017 lebt er fern der Heimat, aber sicher in Knoxville, Tennessee.
Zwei Geschichten, die für Millionen anderer Schicksale stehen. Wer in diesen aufgewühlten Tagen mit den Menschen in Venezuela redet, hört die immer gleichen Erzählungen von Migration, Exil, von der Suche nach Perspektiven. Mittlerweile hat fast jeder Venezolaner einen Verwandten oder Bekannten „draußen“.
Drei Millionen haben ihr Land in den vergangenen Jahren verlassen angesichts von Hunger, Hoffnungslosigkeit oder politischer Verfolgung. Das sind zehn Prozent der Bevölkerung. Auch wenn das Ende des Regimes von Machthaber Maduro nahe scheint, nachdem Juan Guaidó sich vor vier Wochen mit Unterstützung der USA zum Interimspräsidenten ausgerufen hat: Noch geht der Exodus ungebremst weiter.
An diesem Wochenende könnte es an der Grenze zu Kolumbien zur entscheidenden Konfrontation kommen. Die USA und die Opposition in Venezuela haben Maduro ein Ultimatum gestellt, Hilfsgüter ins Land zu lassen. Es läuft an diesem Samstag ab. Maduro, der bisher nicht aus dem Amt weicht, hat das Militär in Alarmbereitschaft versetzt.
Die venezolanische Regierung hat am Donnerstagabend den Flugverkehr ausgesetzt, meldet das Fachportal „Aero.de“. Auch internationale Flugverbindungen seien auf unbestimmte Zeit eingestellt. Maduro wolle dadurch verhindern, das die für Samstag geplante Hilfslieferung ins Land kommt.
Die Fluggesellschaft Air France habe ihre Flüge nach Caracas bis einschließlich 25. Februar eingestellt. Das Portal „Clarin Mundo“ zitiert eine Mitteilung der venezolanischen Luftfahrtbehörde: „Mit sofortiger Wirkung ist der Betrieb von Linien- und Privatflugzeugen auf dem Gebiet der Bolivarianischen Republik Venezuela verboten, bis weitere Anweisungen erfolgen.“
China warnt davor, Venezuela Hilfslieferungen aufzuzwingen. Dadurch bestehe die Gefahr, dass es zu Gewalt komme, sagte der Sprecher des Außenministeriums, Geng Shuang, am Freitag in Peking. Venezuelas Präsident Nicolas Maduro hat gedroht, die Grenze zu Kolumbien zu schließen, über die internationale Hilfsgüter ins Land gebracht werden könnten. Auch die Grenze zu Brasilien könne dichtgemacht werden, hatte Maduro gesagt.
Sein Gegenspieler, der selbst ernannte und von vielen Staaten anerkannte Übergangspräsident Juan Guaido, will gemeinsam mit mehreren Abgeordneten am Samstag versuchen, Lebensmittel und Medikamente aus den Nachbarländern nach Venezuela zu bringen. Guaido ersucht dafür die Unterstützung des Militärs. Das steht allerdings bislang loyal zu Maduro.
Fachkräfte fliehen vor dem Hunger
Jeden Tag verlassen Menschen Venezuela, weil sie sonst verhungern würden oder ihnen lebenswichtige Medikamente fehlen. Das Land blutet aus. Erst gingen die Menschen, die woanders sofort einen Job fanden. Ingenieure vom Ölkonzern PDVSA, Ärzte, Unternehmer, Journalisten. Ein klassischer Braindrain.
Dann ging der Rest der Mittelschicht. Aber inzwischen laufen dem Regime und seinem „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ sogar die einstmals treusten Anhänger davon – die Armen. Lehrerinnen in den Slums von Caracas berichten davon, dass pro Schuljahr bis zu einem Drittel der Kinder nach den Ferien nicht mehr wiederkommt. „Erst ging der Vater, dann die Mutter und letztlich gingen auch die Großeltern - und die haben dann auch die Kinder mitgenommen“, erzählt die Rektorin einer Grundschule in Petare.
Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR hat sich die große Mehrheit der venezolanischen Flüchtlinge auf Lateinamerika verteilt. Zwischen Argentinien und Mexiko haben 2,4 Millionen eine neue Heimat gefunden, alleine eine Million davon in Kolumbien, 500.000 in Peru und 220.000 in Ecuador. Die Staaten der Region „haben in lobenswerter Weise die Türen für die venezolanischen Flüchtlinge geöffnet“, sagt der UNHCR-Sonderrepräsentant für die Flüchtlingskrise, Eduardo Stein.
„Aber viele Länder geraten jetzt an ihre Grenzen, und es bedarf einer gemeinsamen Anstrengung der internationalen Gemeinschaft.“ Denn längst hat sich die Flüchtlingskrise zu einem regionalen Problem entwickelt. Allein in Bogotá kommen täglich bis zu 120 venezolanische Flüchtlinge an. Sie kommen oftmals zu Fuß, ausgezehrt und ausgehungert, erzählen Mitarbeiter von Aufnahmeeinrichtungen.
Am Rande der Belastbarkeit
In Kolumbien erhalten die Venezolaner eine Aufenthaltsgenehmigung für zunächst zwei Jahre und können eine Arbeitserlaubnis beantragen. „Wir haben die Venezolaner bei uns mit Zuneigung und Brüderlichkeit aufgenommen“, sagte Staatschef Iván Duque jüngst beim Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Bogotá. Sein Land ist am Rande der Belastbarkeit.
In Cúcuta, die Grenzstadt im Osten Kolumbiens, leben gewöhnlich 650.000 Menschen. Inzwischen beherbergt sie der Einwanderungsbehörde zufolge 168.000 Venezolaner. Und jeden Tag kommen neue über die Fußgängerbrücke Simón Bolívar hinzu, den einzigen geöffneten Grenzübergang zwischen beiden Staaten. Die nahe gelegene Tienditas-Grenzbrücke wurde zwar 2016 fertiggestellt, aber wegen der damals schon vorhandenen Spannung zwischen den Nachbarn nie offiziell für den Fahrzeugverkehr freigegeben.
Von den 35.000 Venezolanern, die täglich nach Cúcuta kommen, kehren die meisten abends wieder zurück. Sie suchen in der Grenzstadt nach Tagelöhnerjobs, aber vor allem nach Lebensmitteln und medizinischer Versorgung. Inzwischen werden in Cúcuta mehr Kinder von venezolanischen Müttern geboren als von kolumbianischen.
Wer nicht mehr nach Hause zurück will, kann in der Grenzstadt eine Fahrkarte in eine bessere Zukunft kaufen. Bis zum kolumbianisch-ecuadorianischen Grenzübergang Rumichaca kommt man für 110 Dollar. Eine Reise in die peruanische Hauptstadt Lima kostet 235 Dollar, ein Billet für eine Fahrt bis ins argentinische Buenos Aires fast 500 Dollar.
Hatz auf Flüchtlinge
Aber je länger das Elend in Venezuela dauert, je mehr Menschen fliehen, desto größer wird der Unmut in den Aufnahmeländern. Im August kam es in der brasilianischen Grenzstadt Pacaraima im Bundesstaat Roraima zu regelrechten Jagdszenen. Dutzende Brasilianer machten mit Waffen und Steinen Jagd auf venezolanische Migranten und zündeten ihre Notunterkünfte an.
Auslöser war der Überfall auf einen brasilianischen Händler, dessen Familie dafür venezolanische Flüchtlinge verantwortlich machte. Ende Januar entlud sich die Wut auf venezolanische Flüchtlinge in der ecuadorianischen Stadt Ibarra. Anlass war ein Mord, mutmaßlich begangen von einem Venezolaner an seiner ecuadorianischen Freundin. Danach stürmten Ecuadorianer Wohnungen und Unterkünfte der Venezolaner und verbrannten deren Hab und Gut.
Nach vier Wochen mit zwei rivalisierenden Präsidenten verliert Socorro Mora allmählich die Geduld. „Ich hatte all meine Hoffnung in Juan Guaidó gesetzt“, sagt sie. Aber jetzt dauere der Machtkampf schon so lange – „und es ist keine Besserung in Sicht.“ Wenn das Elend nicht bald ein Ende hat, will die 42-Jährige ihrem Sohn folgen und in Kolumbien Arbeit suchen.
„Dann muss mein Mann hier auf die anderen beiden Söhne aufpassen“. José Quintero hingegen, der Aktivist von „Pro Catia“ im fernen Tennessee, sitzt schon auf gepacktem Koffern. „Wenn Maduro fällt, gehe ich zurück. Ich will Venezuela wieder mit aufbauen.“
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