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Migrationsforscher Gerald Knaus im Interview Erfinder des Türkei-Abkommens: „Die EU darf sich nicht in einen Wettbewerb der Brutalität begeben“

Gerald Knaus hat dazu beigetragen, die Flüchtlingskrise von 2015 zu stoppen. Nun erklärt er, wie die EU mit der brutalen Politik Lukaschenkos umgehen kann.
11.10.2021 - 14:00 Uhr Kommentieren
Im Jahr 2016 entwarf Gerald Knaus das Türkei-Abkommen und stellte damit entscheidende geopolitische Weichen für die deutsche Migrationspolitik. Quelle: imago images/Future Image
Gerald Knaus

Im Jahr 2016 entwarf Gerald Knaus das Türkei-Abkommen und stellte damit entscheidende geopolitische Weichen für die deutsche Migrationspolitik.

(Foto: imago images/Future Image)

Brüssel Die EU steht vor ungelösten Migrationsproblemen – wieder einmal. Grenzstaaten stoßen Migranten illegal in andere Länder zurück. In Weißrussland werden Busse voller Menschen an die Grenzen gefahren und Abmachungen mit der Türkei scheinen nicht mehr zu gelten.

Die Vorschläge von Gerald Knaus halfen vor einigen Jahren dabei, die Flüchtlingskrise zu stoppen. Mit den gleichen Ideen ließen sich auch die anderen Probleme lösen, sagt er im Interview mit dem Handelsblatt.

Im Grunde gäbe es beim Umgang mit irregulärer Migration immer nur drei Optionen, so Knaus. Erstens: offene Grenzen, für jeden, der es bis dahin schafft. Dabei entstünden lebensgefährliche Situationen. Zweitens: Zurückschicken in die Transitländer. Das widerspreche internationalen Abkommen und sei spätestens an der Grenze zu Weißrussland für die EU „ein rechtliches und moralisches Desaster“.

Und drittens: die geordnete Abschiebung in kooperierende Länder, in denen eine Versorgung sichergestellt ist. Knaus wirbt für diese dritte Option, weil es die einzige sei, bei denen auf Dauer human mit Flüchtlingen umgegangen werde.

Lesen Sie hier das ganze Interview:

Herr Knaus, die EU-Staaten wollen Afghanen nach Europa umsiedeln. Wie wird sich das auf die irreguläre Migration auswirken?
Das Ziel muss sein, dass die irreguläre Migration zurückgeht, ohne dass Menschenrechte verletzt werden. Außerdem muss die geordnete Aufnahme über Resettlement hochgefahren werden. Dann wird dieser reguläre Weg die beste Möglichkeit, nach Europa zu kommen. Das wäre ein Gewinn für alle, auch für Flüchtlinge.

Aus Ihrer Sicht sind Resettlements ein wichtiger Baustein einer neuen Flüchtlingspolitik. Warum?
Die derzeitige Flüchtlingspolitik der EU ist absurd und inhuman. Die Zahl der Menschen, die etwa aus der Türkei kommen, wird nur durch ständigen Rechtsbruch und Gewalt reduziert. Menschen, die Griechenland bereits erreicht haben, werden in Plastikboote gesetzt und in der Ägäis ausgesetzt. Das ist der Wilde Westen.

Was muss passieren?
Wir brauchen einen Neustart der EU-Türkei-Erklärung. Vieles daran hat sehr gut funktioniert: Das Geld für die Unterstützung von Flüchtlingen hat die Situation von Millionen Syrern in beeindruckender Weise verbessert.

Trotzdem fühlen sich beide Seiten nicht mehr an ihre Abmachung gebunden.
Die EU hat darin versprochen, dass es keine Pushbacks gibt. Diese passieren heute aber jeden Tag. Die EU sollte auch weiterhin Millionen Flüchtlinge in der Türkei finanziell unterstützen und mehr schutzbedürftige Syrer per Resettlement aufnehmen. Seit März 2020 nimmt auch die Türkei niemanden mehr zurück. Dieser Zustand schadet allen.

Warum sollte es in Zukunft besser laufen?
Die geordnete Rücknahme ist der beste, ja oft einzige Weg, humane Kontrolle zu haben. Das gilt für alle Grenzen der EU. Wir wissen, dass das funktionieren kann, wenn Asylanträge schnell bearbeitet werden und wenn es dafür Partner gibt.

Was ist Ihr Vorschlag?
Es gibt nur drei Optionen: offene Grenzen, wie es sie 2015 gab. Zurückstoßen ohne Prüfung, wie derzeit in Griechenland, Ungarn, Polen und Kroatien. Oder ein Zurückschicken nach Prüfung in Kooperation mit Ländern, in denen die Menschenwürde nicht verletzt wird.
Diese dritte Option ist schwierig, verlangt Diplomatie und Angebote, ist aber die einzige mit rechtsstaatlichen Prinzipien vereinbare Option, die den Flüchtlingsschutz ernst nimmt und trotzdem irreguläre Migration reduziert. Sie entmutigt Menschen, sich auf irreguläre und lebensgefährliche Weise nach Europa durchzuschlagen.

Mit der Türkei ist das vielleicht noch vorstellbar. Aber mit Weißrussland? Auch von dort kommen Flüchtlinge.
Dort geht das so nicht, wie es auch mit Libyen nicht gehen sollte. Alexander Lukaschenko ist bereit, die eigene Bevölkerung zu foltern. Er nimmt auch den Tod von Flüchtlingen in Kauf. Die EU darf sich nicht in einen Wettbewerb der Brutalität mit einem Diktator begeben, wie es Polen derzeit tut. Das ist für die EU und das Flüchtlingssystem ein rechtliches und moralisches Desaster. Doch offene Grenzen sind ebenfalls utopisch.

Was dann?
Es bleibt wieder nur die dritte Option: Man versucht, einen Verbündeten zu finden, der ab einem Stichtag Menschen aufnimmt. Diese Idee wird oft zu Unrecht kritisiert. Die EU müsste klar sagen: „Wir lassen niemanden an unserer Grenze erfrieren. Aber der Weg über Weißrussland führt nicht in die EU.“ In der Vergangenheit hat das oft funktioniert.

Wo?
Die Türkei ist seit Jahren das Land mit den meisten Flüchtlingen weltweit. Trotzdem hat sie 2016 der EU angeboten, Leute zurückzunehmen. Australien und Malaysia erreichten 2011 eine solche Verabredung, die auch das Flüchtlingshilfswerk UNHCR lobte.
Die Frage ist: Was bietet die EU an? Wie viel sind der EU humane Grenzen ohne Tote und ohne Erpressung durch Diktatoren oder Menschenhändler wert? Dafür muss man jetzt auf andere Länder in Osteuropa zugehen. Das Ziel ist, diese irreguläre Migration human zu stoppen. Und die versuchte Erpressung ins Leere laufen zu lassen.  

Weißrussland bringt Migranten an die Grenzen der EU und hilft ihnen dabei, die Grenze zu übertreten. Die Nachbarstaaten wissen sich kaum zu helfen. Quelle: dpa
Weißrussischer Präsident Lukaschenko

Weißrussland bringt Migranten an die Grenzen der EU und hilft ihnen dabei, die Grenze zu übertreten. Die Nachbarstaaten wissen sich kaum zu helfen.

(Foto: dpa)

Wird darüber gerade verhandelt?
Ich habe es einigen in der EU vorgeschlagen und Politikern in möglichen Aufnahmeländern empfohlen, dies anzubieten. Sie müssten dafür etwas für ihre Bürger bekommen, nicht nur Geld: Zugang zum EU-Markt, mehr legale Arbeitsmigration. Das Ziel ist nicht, dass dort große Lager entstehen, sondern, den Weg in die EU auf humane Weise zu schließen. Denn das, was jetzt passiert, darf keinen Tag länger eine Option bleiben: dass im Winter Menschen zwischen Weißrussland und Polen erfrieren. Oder sie im Meer ertrinken, weil sie nicht gerettet werden.

Halten Sie es für realistisch, dass Ihre Idee umgesetzt wird?
Ja, wenn sich Deutschland und Frankreich dafür einsetzen. Verbunden mit mehr Resettlement bedeutet es mehr Flüchtlingsschutz, weniger irreguläre Migration, weniger Tote an der tödlichsten Grenze der Welt – der EU-Außengrenze im Mittelmeer. Darum sollte die nächste deutsche Bundesregierung mit Nachdruck darauf hinarbeiten. Die Alternative ist, in einen Wettbewerb der Brutalität mit skrupellosen Diktatoren einzutreten. Pushbacks nach Belarus oder indirekt nach Libyen sollten für alle deutschen Parteien inakzeptabel sein.

Ist es richtig, die Grenzen härter zu befestigen?
Irreguläre Migration human zu reduzieren ist legitim und moralisch zu rechtfertigen. Manche, denen viel am Flüchtlingsschutz liegt, setzen immer noch vor allem auf irreguläre Migration Schutzbedürftiger. Doch diese ist nicht nur politisch weltweit kaum noch vorhanden, sondern wirft auch viele moralische Fragen auf: Irreguläre Migration ist lebensgefährlich. 2021 sind schon mehr als 1800 Menschen auf dem Weg in die EU ertrunken. 2016 waren es sogar mehr als 5000. Man sollte niemanden ermutigen, in einem Fischerboot von Westafrika über den Atlantik nach Spanien zu fahren. 

Also sind die neuen Zäune in Ungarn, Griechenland und jetzt rund um Weißrussland richtig?
Das Problem sind nicht die Zäune. Es ist der Rechtsbruch, der auch an bereits bestehenden Zäunen stattfindet, Gewalt gegen Menschen, Pushbacks. Zäune ohne Pushbacks sind oft wenig effektiv. Trotz Zaun hat etwa Ungarn seit 2016 mehr als 50.000 Menschen illegal nach Serbien zurückgestoßen. Seit Jahren werden in Kroatien Jugendliche verprügelt und über die Grenze nach Bosnien zurückgeschickt.
Was wir an der Grenze zu Weißrussland erleben, ist eine weitere Steigerung. Wenn das am Ende zu lebensgefährlichen Zäunen führt und die EU den Eisernen Vorhang wieder errichtet, wäre das eine moralische Bankrotterklärung. Doch das ist heute der gefährliche Trend.  

Der griechische Innenminister beruft sich auf die EU-Verordnung zur Überwachung der Seeaußengrenzen, laut der Schiffe zurückeskortiert werden sollen.
Der Europäische Gerichtshof hat glasklar gesagt, dass das ohne Einzelprüfung nicht geht, ebenso der Europäische Menschenrechtsgerichtshof. Die Flüchtlingskonvention ist entstanden nach der Erfahrung, dass geflohene Juden zurück ins Dritte Reich geschickt wurden. Wenn sich Europa nicht mehr die Mühe macht, Anträge zu prüfen, wie kann es dann die Idee des Flüchtlingsschutzes weltweit verteidigen?

Mehr: Wie die EU ihr Migrationsproblem auch anders lösen könnte

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