Mit türkischen Wurzeln in Deutschland Mein Leben in zwei Welten

Das Land kann anders sein als Europa und trotzdem Partner.
Neulich habe ich wieder diese Frage gestellt bekommen: „Kannst du mir bitte erklären, was da schon wieder in der Türkei passiert?“ Ich bekomme sie von Freunden gestellt, von den Eltern meiner Freunde, von Kollegen oder vom deutschen Teil meiner eigenen Familie.
Was in der Türkei los ist, kann jeder im Internet sehen. Durch Anschläge sterben im Wochenrhythmus Menschen. Während eines Putschversuchs beschießen Kampfjets des Militärs das eigene Parlamentsgebäude, verletzen und töten ihre Landsleute. Und ein von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan motivierter Mob begeht anschließend Lynchmorde an den Putschisten.
Eine neue Frage drängt sich jetzt in den Vordergrund: „Wie geht es weiter in der Türkei?“ Oder, wie ich sie am Wochenende wieder etwas fordernder gestellt bekommen habe: „Kannst du mir bitte erklären, wie es mit der Türkei weitergehen soll?“
Es wird unruhiger werden. Die Türkei, wie ich sie kennen gelernt habe, wird bald nicht mehr existieren. Ankara entfernt sich von Brüssel, rüstet auf und legt sich mit großen Nachbarn an. Der Staat bewegt sich weg von einer parlamentarischen Demokratie. Die Wähler entscheiden sich seit nunmehr 14 Jahren für eine konservativ und islamisch orientierte Regierung. Unter Umständen wird die Todesstrafe wieder eingeführt. Wir werden diese Entwicklung nicht aufhalten können.

Ozan Demircan ist Auslandskorrespondent und hat deutsche und türkische Wurzeln.
Ich habe eine deutsche Mutter und einen türkischen Vater. Ich bin zwar in Deutschland geboren, habe zu Hause immer nur Deutsch gesprochen. Aber wenn ich wegen meines Namens gefragt werde, wo meine Wurzeln liegen, antworte ich meist: Ich bin zu 50 Prozent Türke und zu 100 Prozent Deutscher.
Es fiel mir schon immer schwer, diese 50 Prozent zu erklären, weil sie so anders waren. Die türkische Bevölkerung war stets gespalten. Hier die säkularen Anhänger des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk; da die konservativen Anhänger einer islamisch orientierten Politik. Und schon immer sind diese beiden Hälften aneinandergeraten. Der erste Putsch des Landes im Jahr 1960 war die Folge einer fast zehnjährigen Amtszeit des konservativen Regierungschefs Adnan Menderes. Er wurde von den Umstürzlern gehängt. In den zwei Dekaden danach bekämpften sich Intellektuelle und Nationalisten, danach Kurden und Türken und in den 1990ern scheinbar jeder jeden.
Jetzt wird das Land wieder in seinen Grundfesten erschüttert. Wo früher ständige Neuwahlen die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei lähmten, herrscht nun eine, wenn auch beinahe erzwungene politische Stabilität. Wo früher eine liberale Gesellschaft um jeden Preis europäisch sein wollte, bestimmt nun ein konservativer, ja fast schon rückwärtsgewandter Wandel die Tagesordnung; früher wurde der „Christopher Street Day“ in Istanbul frenetisch gefeiert – heute ist es das Fastenbrechen. Wo früher der EU-Beitritt unveränderliche Doktrin jeder türkischen Regierung war, lässt heute ein gewählter Präsident keine Gelegenheit aus, um zu betonen, wie egal ihm das Staatenbündnis eigentlich ist.
Was am Ende stehen wird, kann niemand vorhersagen. Klar sind zwei Sachen: Die Türkei wird anders sein als Europa. Und: Ein großer Teil der Bevölkerung spielt mit. Gefällt mir das alles? Nein. Mein Wunsch, irgendwann einmal einen Teil meines Lebens in der Türkei zu verbringen, bekommt gerade einen herben Dämpfer versetzt. Auf der anderen Seite ist es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die Spaltung der türkischen Gesellschaft solche Eruptionen hervorruft, wie wir sie nun erleben.
Wenn ich nun gefragt werde, wie es mit der Türkei weitergehen soll, könnte ich es mir leichtmachen. Ich könnte einfach antworten, es ginge den Bach hinunter. So leicht ist es aber nicht. Die Türkei entfernt sich von Europa, ja. Wir bedauern das und wundern uns darüber, warum ein Land nicht so sein will wie Deutschland mit all seinen Vorteilen und den wenigen Nachteilen. Aber das ist nicht zu Ende gedacht. Niemand sollte glauben, mit gut gemeinten Ratschlägen könnten Berlin oder Brüssel aufhalten, was gerade in Anatolien geschieht. Mahnungen, die Rechtsstaatlichkeit einzuhalten, verfliegen in Richtung Bosporus ebenso wie Forderungen deutscher oder deutsch-türkischer Politiker nach einem Rücktritt Erdogans.
Ich werde weiterhin diese Fragen gestellt bekommen. Meine Antwort lautet: Das Blutvergießen muss aufhören, auch die politische Hetzjagd auf Andersdenkende. Wenn das Land danach entscheidet, anders sein zu wollen als Europa, dann muss das nicht heißen, dass die Türkei nicht trotzdem Europas Partner sein kann. Etwa in der Flüchtlingskrise, im Kampf gegen die brutale Auslegung des Islamismus und erst recht in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, im Tourismus – und das mit gegenseitigem Respekt.
Diese Brücke im Kopf zu bauen ist nicht leicht. Aber es ist möglich. Ich mache das seit drei Jahrzehnten so. Auch wenn es manchmal schwerfällt.
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